Mobilität: Das neue Normal
Die Covid-19-Pandemie verändert die Mobilität. Während des Lockdowns waren Metropolen wie New York wie leer gefegt. Das Mobilitätsverhalten durchläuft einen rasanten Wandel und bietet neue Chancen.

Die Corona-Pandemie ändert das Mobilitätsverhalten. Foto: shutterstock – GetCoulson
Ab 11. März 2020 stand die Welt still. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärte Covid-19 zur Pandemie. Die Wirtschaft brach ein – mit Folgen: Die Pandemie sorgte im ersten Halbjahr 2020 für einen beispiellosen Rückgang des weltweiten Ausstoßes von Emissionen und Treibhausgasen (THG). Weder die Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 noch die Ölkrise im Jahr 1979 hatten derart starke Einbrüche verursacht. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gelangten 1.551 Millionen Tonnen weniger Kohlenstoffdioxid (CO2) in die Atmosphäre. Das bedeutet ein Minus von fast 9 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Das berichten Klimaforscher im Fachmagazin „Nature Communications“. Demnach sanken die THG allein im bodengebundenen Verkehr um 40 Prozent (minus 613,3 Millionen Tonnen CO2).

Madrid: Eine der wichtigsten Hauptstraßen Madrids, die Paseo de la Castellana, wurde im Mai 2020 coronabedingt zur Fußgängerzone. Foto: GettyImages/ NurPhoto
Die Klimaforscher ermittelten mithilfe von Bewegungsdaten, dass mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung im April 2020 das Reisen um mehr als 50 Prozent reduzierte. Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) verlor dramatisch an Fahrgästen. Das McKinsey-Zentrum für Mobilität der Zukunft berichtet von 70 bis 90 Prozent weniger Reisenden. Die Kommunen hielten den ÖPNV zwar am Laufen, verringerten aber Frequenzen und Verbindungen, um Kosten zu sparen.
Wer konnte, nutzte private Verkehrsmittel, um das Risiko einer Infektion zu minimieren. Da nicht jeder einen eigenen Pkw besitzt und viele Sharingdienste während des Lockdowns ihr Angebot einstellten, schossen die Fahrrad- und insbesondere die E-Bike- und E-Roller-Verkäufe auf einen Höchststand. Das belegt eine Umfrage der Boston Consulting Group (BCG) unter 5.000 Bewohnern von Metropolen in den USA, China und der EU. Demnach verdoppelte sich im März der Absatz von Rädern in den USA verglichen mit dem Vorjahr. Ähnliche Entwicklungen verzeichneten europäische Städte.
Pkw- und Motorradfahrer fahren risikoreicher
Die leeren Straßen und der neue Verkehrsmittelmix im Straßenverkehr ergaben neue Herausforderungen. So beobachteten die Forscher bei Pkw- und Motorradfahrern einen risikoreicheren Fahrstil wegen des geringeren Verkehrsaufkommens. Mit der Folge, dass die Zahl der Verkehrsunfälle zwar abnahm, aber nicht in dem Maße, wie der Verkehr nachließ. Kalifornien etwa berichtet von 50 Prozent weniger Schwerverletzten durch Verkehrsunfälle, während das Verkehrsaufkommen in den USA im Mittel um mehr als 60 Prozent sank. Vergleichbare Entwicklungen bestätigen europäische Staaten.
52,4 Prozent weniger CO2-Ausstoß durch Flugverkehr.
6 Prozent weniger in der Schifffahrt.

Berlin: Die im Sommer 2020 meist temporär errichteten Radwege dienen auch als Testballon für künftige Verkehrsplanung. Foto: istock / IGPhotography
Eine besondere Herausforderung des zunehmenden Individualverkehrs war es, der steigenden Zahl an Rad- und Rollerfahrern Herr zu werden und gleichzeitig dem erhöhten Platzbedarf aufgrund der Abstandsempfehlungen Rechnung zu tragen. Als Gegenmittel schlossen Städte einzelne Straßen für den Autoverkehr und drosselten in den von Pkw- und Radfahrern gleichermaßen genutzten Zonen die höchstzulässige Geschwindigkeit auf 20 oder 30 km/h. Ein anderes Mittel war die Einrichtung von Pop-up-Fahrradwegen auf einzelnen Fahrstreifen. „Die Städte haben auf die besondere Situation reagiert und beobachten nun die Auswirkungen der Maßnahmen auf die Verkehrssicherheit“, sagt DEKRA Unfallforscher Markus Egelhaaf. Bis diese feststünden, werde es aber noch einige Zeit dauern. Die endgültige Balance von Pkw-Verkehr und Micro-Mobility werde sich erst nach der Pandemie einstellen.
Anders der Güterverkehr. Während viele Lkw aufgrund von Fabrikschließungen und Lieferengpässen zunächst stillstanden, florierte der Onlinehandel weltweit. Laut dem Forschungsinstitut Inrix lieferten KEP-Dienste in der Spitze bis zu 60 Prozent mehr Pakete an private Haushalte und Gewerbebetriebe. In China, dem frühen Epizentrum der Pandemie, verzeichnete demnach der Einzel- und Großhändler Carrefour eine Steigerung der Hauslieferungen um das Sechsfache. Im Herbst befand sich der Güterverkehr laut Inrix wieder annähernd auf gewohntem Niveau.
Vielfältige Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten

Seoul: Abstandsregelung und Maskenpflicht prägten im Sommer 2020 das Bild im ÖPNV in Südkorea. Foto: iStock / Sanga Park
Nach der ersten Welle lockerten die Staaten die Beschränkungen des öffentlichen Lebens. Es zog auch wieder mehr Menschen ins Büro. Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus ist aber nach wie vor groß, weswegen auch die Fahrgastzahlen des ÖPNV bislang nicht wieder das Vorkrisenniveau erreicht haben. Laut BCG wollen je nach Region zwischen 40 und 60 Prozent der Befragten den ÖPNV künftig weniger nutzen und sich dafür mehr aufs Rad schwingen, zu Fuß gehen oder mit dem eigenen Pkw fahren.
Die Entwicklungen wirken sich auch aufs Klima aus. Seit Ende der ersten Pandemiewelle im Juni 2020 hätten die meisten Staaten wieder das gewohnte Niveau des CO2-Ausstoßes erreicht, berichten die Forscher in „Nature Communications“. Nur der THG-Rückgang des Verkehrs hält noch an. An China, dem Land, das als erstes den Lockdown beendete, zeigt sich, dass der Bedarf an Fahrrädern und Radsharing ungebrochen groß ist. Inrix belegt für Westeuropa, dass Mitte Juni Pkw wieder annähernd dieselben Kilometerleistungen aufwiesen wie vor dem Lockdown.
60 Prozent betrug im April 2020 das Umsatzplus bei Fahrradverkäufen in Großbritannien gegenüber dem Vorjahresmonat.
Was aber passiert, wenn Behandlungsmethoden und Impfungen gegen das Coronavirus vorhanden sind? Laut BCG wird das Sicherheitsbedürfnis nachlassen; das Vertrauen in den ÖPNV werde ein Comeback erleben. Das belegen auch Erkenntnisse aus China. Dort steigen wieder mehr Reisende in Busse und Bahnen ein. Jedoch verharren die Fahrgastzahlen auf etwa 50 Prozent des Vorkrisenniveaus. Weitere Maßnahmen könnten zu neuem Vertrauen in die Sicherheit des ÖPNV führen. Digitale Buchungsdienste, wie sie Metropolen wie Peking bereits testen, wären eine Möglichkeit. Auch Echtzeitbelegungsanzeigen an Haltestellen, um Überfüllungen zu vermeiden, können dazu beitragen.

Neue Aufgabe: Neben Essen und Einkäufen gehören auch Blumen zum neuen Liefersortiment von Kiwibot. Foto: GettyImages – Fredy Builes / VIEW Press
Trotz allem werden Pkw und Micro-Mobility auch in Zukunft eine große Bedeutung haben. Darin sind sich alle Experten einig. Damit die dauerhafte Zunahme der individuellen Mobilität zu keiner zusätzlichen Belastung der Umwelt führt, fordern vor allem China und die EU eine grüne Erholung der Wirtschaft. Sie haben bereits bekannt gegeben, dass sie den Umstieg auf alle Fahrzeuge mit umweltfreundlicheren Antrieben bezuschussen werden.
Langfristige Einflüsse auf Mobilität

Lieferroboter: Ausgestattet mit Sensoren und Kameras sind Lieferroboter auf dem Vormarsch. Foto: JD.com/ Mao Yanzheng
Viele Menschen wollen künftig Wege in einem Umkreis von etwa zehn Kilometern mithilfe der Mikromobilität oder zu Fuß bewältigen. Somit sind Konzepte nötig, um den Mischverkehr auf und entlang der Straße sicher zu gestalten. Die Mittel dazu werden, neben der Bemautung von Innenstädten, autofreie Verkehrszonen ebenso sein wie die bedarfsgerechte Einrichtung von Fahrwegen für Transportmittel der Mikromobilität. Die Covid-Mobility-Works-Datenbank verzeichnete im Oktober 2020 mehr als 170 sogenannte Open-Streets-Initiativen, wobei Verkehrswege umgenutzt werden – etwa zu Fußgänger- und Fahrradwegen oder Warteschlangen-Pufferzonen vor Geschäften.

Paketdrohne: Der chinesische Onlinehändler JD.com setzt auf innovative Logistiklösungen. Foto: JD.com
Um die Straßen von Nutzfahrzeugen zu entlasten, kommen zumindest mittelfristig auf der letzten Meile Drohnen und andere automatisierte Fahrzeuge infrage. Der Onlinehändler JD.com nutzte in Wuhan, im Zentrum der Coronapandemie, automatisierte Lieferfahrzeuge, um Krankenhäuser zu versorgen. Mithilfe von Drohnen konnten abgelegenere Ansiedlungen versorgt werden. Das kolumbianische Start-up-Unternehmen Kiwibot vergrößerte seine Roboterflotte von 20 auf 50 Einheiten, um Städte in Kalifornien, Kolumbien und Taiwan mit Lebensmittellieferungen zu versorgen. Weitere 500 Einheiten befinden sich in Produktion.
Die Einflüsse aller Maßnahmen auf Umwelt und Sicherheit stehen unter Beobachtung. Die Verkehrsexperten von McKinsey gehen davon aus, dass sich mittelfristig all jene durchsetzen werden, die mit Verbesserungen einhergehen, sei es ein Rückgang von Unfällen und geringere Umweltbelastungen oder auch reduzierte gesundheitliche Risiken. Das internationale Transportforum ITF rät Städten dazu, die Notfallinfrastruktur als Chance zu begreifen. Sie sollten heute die Infrastruktur schaffen, die sie auch nach der Pandemie behalten wollen.
Drei Fragen an Markus Egelhaaf, DEKRA Unfallforscher

Markus Egelhaaf, DEKRA Unfallforscher. Foto: DEKRA
Wie beurteilen Sie die Verkehrskonzepte der Städte, um dem zusätzlichen Aufkommen von Radlern und Rollerfahrern gerecht zu werden?
Das grundsätzlich niedrigere Verkehrsaufkommen während der ersten Pandemiewelle hat potenzielle Gefahrensituationen entschärft. Wie gut die neuen Verkehrskonzepte wirklich sind, können wir aber erst ab dem kommenden Frühjahr beurteilen, wenn sich der Verkehr normalisiert.
Welche Konsequenzen hat der Boom der Micro-Mobility für die Verkehrssicherheit?
Die Zahl der Verletzten und Getöteten im Verkehr ist während der Pandemie durch das geringere Verkehrsaufkommen gesunken, das ist aber kein Grund für Entwarnung. Das unfallbedingte Verletzungsrisiko von Fahrrad- oder Rollernutzern liegt deutlich über dem von Pkw- oder Bus- und Bahnnutzern. Wenn die Zahl und die Kilometerleistung von Fahrrad und Roller zunehmen, steigt die Zahl der damit Verunglückten, ohne dass bei den anderen Verkehrsteilnahmearten mit nennenswerten Rückgängen zu rechnen ist. Vor allem die Zahl von Alleinunfällen mit Rad und Roller ist sehr hoch. Gerade bei Wieder- und Neueinsteigern tritt dieses Problem auf.
Welche Empfehlungen geben Sie den Kommunen also mit auf den Weg?
Zunächst einmal müssen die Kommunen ein Radwegkonzept entwickeln, das es den Nutzern der Micro-Mobility ermöglicht, zügig und sicher von A nach B zu kommen. Es muss den höheren Geschwindigkeiten, die Pedelecs erreichen, und dem größeren Platzbedarf, wie ihn Cargobikes haben, gerecht werden. Ich empfehle zudem eine strikte Trennung von Rad- und Kraftverkehr. Auch der Begegnungsverkehr auf Radwegen sollte entfallen. Eine neue Kreuzungsgestaltung ist vielerorts nötig. Die Behörden sollten Rad- und Scooterfahrer stärker kontrollieren und gefährliches Fehlverhalten ahnden. Auf jeden Fall ist jetzt die richtige Zeit, um neue Lösungen für einen sicheren und zukunftsgewandten Verkehr zu testen und den begrenzten Straßenraum dem sich wandelnden Bedarf entsprechend neu zu verteilen.
Hochentwickelte Assistenzsysteme für mehr Sicherheit
Fahrerassistenzsysteme können Unfälle vermeiden oder dazu beitragen, die Folgen zu mindern. Allerdings ist die Ausstattungsquote der Fahrzeuge mit elektronischen Helfern bislang noch gering. An diesem Punkt setzt jetzt eine EU-Verordnung an – mit der Vorgabe eines Mindeststandards für Fahrerassistenzsysteme in neuen Autos.