Nachhaltigkeit ist ein Muss

Author: Matthias Gaul

12. Jan. 2022 Mobilität / Nachhaltigkeit / Automobil

Um die festgelegten internationalen Klimaziele zu erreichen – unter anderem soll die Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden –, forcieren nahezu alle Player rund um das Automobil ihre Anstrengungen, mit den unterschiedlichsten Maßnahmen den CO2-Fußabdruck kräftig zu senken.

Der Countdown läuft – es naht der Tag, ab dem nur noch reine Elektroautos oder mit Wasserstoff, Biokraftstoff oder E-Fuels betankte Fahrzeuge auf den Straßen dieser Welt unterwegs sein dürfen. Die Automobilhersteller sind sich der damit verbundenen Herausforderungen bewusst und erweitern ihr Produktportfolio schon seit Jahren um alternative Antriebslösungen. Aber auch in Sachen Fertigung oder Materialauswahl sowie auf vielen weiteren Ebenen wird intensiv das Ziel verfolgt, die CO2-Emissionen möglichst schon bei ihrer Entstehung in der Lieferkette deutlich zu reduzieren. Die Fülle an Beispielen ist bereits heute schier unerschöpflich und lässt sich hier nur ansatzweise darstellen.
Recycelte Materialien und nachwachsende Rohstoffe gewinnen an Bedeutung
So beabsichtigt zum Beispiel die BMW Group, ab 2025 Stahl zu beziehen, dessen Herstellung bis zu 95 Prozent weniger CO2-Emissionen verursacht und keine fossilen Rohstoffe wie Kohle benötigt. Eine entsprechende Vereinbarung hat das Unternehmen mit dem schwedischen Start-up H2 Green Steel getroffen, das für die Stahlproduktion Wasserstoff und ausschließlich Grünstrom aus erneuerbaren Energien verwendet.
Mercedes-Benz ist schon im Februar 2020 mit dem Biokunststoff-Hersteller UBQ Materials eine Kooperation eingegangen. Das Start-up aus Israel verwertet Haushaltsabfälle und stellt daraus einen neuen Werkstoff her — dieser ist zu 100 Prozent recycelt und zu 100 Prozent recycelbar. Serienmäßig könnte der Biokunststoff schon bald für die Herstellung einer Leichtbau-Laderaummulde zum Einsatz kommen. Auch der Prototypenbau und die Produktion von Stoßfängern bei Bussen, Kabelkanälen und Ladungsträger­boxen könnten auf das CO2-neutrale Rezyklat umgestellt werden.
Dass sich insbesondere im Bereich der Werkstoffe eine Menge tut, zeigen unter anderem die vom US-amerikanischen Mineralölkonzern Exxon Mobil im Januar 2021 vorgestellten Systemlösungen etwa für die Herstellung von Dichtungen für Fensterführungen im Automobilbereich. Die dafür verwendeten thermoplastischen Polymere werden mit recyceltem Material hergestellt und können als Ersatz für synthetischen Kautschuk dienen. Großes Innovationspotenzial für die Zukunft verspricht außerdem die Produktion von Batterien für Elektrofahrzeuge. So hat der chinesische Batteriespezialist CATL für 2023 eine neue Zellchemie angekündigt, die nicht nur ohne Kobalt und Nickel, sondern auch ohne Lithium auskommt und vielmehr auf Natrium setzt. Kobalt, Nickel und Lithium stehen aufgrund ihrer Knappheit und der teilweise fragwürdigen Abbaumethoden schon länger in der Kritik.
Mehr Nachhaltigkeit lautet unter anderem auch das erklärte Ziel des Reifenherstellers Michelin. Geplant ist, den Anteil der biologisch erzeugten oder recycelten Materialien in den Reifen des Unternehmens bis 2030 auf 40 Prozent und bis 2050 auf 100 Prozent zu erhöhen. Zu diesem Zweck forscht Michelin mit Partner­unternehmen wie Carbios und Pyrowave an Hightech-Recyclingverfahren, die handelsüblichem PET oder Verpackungsmüll ein zweites Leben als Reifenbestandteile ermöglichen. Bereits ab 2024 sollen die ersten Reifen, die recycelte Plastikabfälle enthalten, vom Band rollen.
Das Projekt verspricht einen beträchtlichen Nutzen für die Umwelt, schließlich werden jedes Jahr weltweit von allen Reifenherstellern zusammen rund 1,6 Milliarden Autoreifen verkauft. Für deren Produktion verarbeiten die Hersteller bis zu 800.000 Tonnen PET-Fasern. Rund vier Milliarden Plastikflaschen könnten damit jährlich zu technischen Fasern für Reifen recycelt werden. In eine im wahrsten Sinne des Wortes grüne Zukunft zu rollen, hat sich auch Continental auf die Fahnen geschrieben: Der Reifenhersteller präsentierte erst unlängst auf der IAA Mobility 2021 in München den Conti ­GreenConcept mit einem 17-prozentigen Anteil recycelter Materialien und einem 35-­prozentigen Anteil nachwachsender Rohstoffe. Zu den verwendeten Biomaterialien gehören unter anderen Naturkautschuk aus Löwenzahn, Silikat aus der Asche von Reishülsen sowie pflanzliche Öle und Harze, wodurch der Anteil an rohölbasierten Materialien deutlich vermindert wird.
Die Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit setzen sich im Bereich der Kraftstoffe fort. So hat zum Beispiel der britische Mineralölkonzern BP mit dem dänischen Windkrafterzeuger Ørsted ein Projekt gestartet, in dessen Rahmen in der Raffinerie von BP in Lingen im niedersächsischen Emsland ein 50 Megawatt starker Elektrolyseur entstehen soll, der mit Strom aus einem Offshore-Windpark von Ørsted beliefert werden könnte. Damit ließe sich bereits 2024 grüner Wasserstoff produzieren, der einen Teil der fossilen Wasserstofferzeugung in der Raffinerie ersetzen und gleichzeitig zur Herstellung von nachhaltigeren Kraftstoffen dienen würde. Beides zusammen vermeidet erhebliche Mengen an CO2-Emissionen. Über den gesamten Projektzyklus von 20 Jahren ist von rund 1,6 Millionen Tonnen die Rede.
Kreislaufwirtschaft bleibt eine große Baustelle
​Allein schon die wenigen hier aufgeführten Beispiele zeigen, dass speziell die Kreislaufwirtschaft einen wichtigen Beitrag zur Dekarbonisierung leisten kann. In seiner 2020 veröffentlichten Studie „The Automotive Industry in the Era of Sustai­nability“ kommt das Capgemini Research Institute dabei zu dem Ergebnis, dass die Einführung einer Kreislaufwirtschaft insbesondere seitens der Automobilbranche viele Schlüsselbereiche der Nachhaltigkeit betrifft – von der ­Supply-Chain bis zu Recycling, Beschaffung und Aftersales. Für die Studie wurden über 500 Führungskräfte von Automobilunternehmen aus neun Ländern sowie mehr als 300 Nachhaltigkeits­experten befragt. Der Studie zufolge haben die Automobilunternehmen jedoch noch einen langen Weg vor sich, bis sie umfassend von der Kreislaufwirtschaft profitieren. Nur 32 Prozent der für die Studie befragten Unternehmen gaben an, mit ihrer Lieferkette derzeit zur Kreislaufwirtschaft beizutragen, wobei dieser Anteil in den nächsten fünf Jahren voraussichtlich auf etwa 50 Prozent steigen wird.
Auch Professor Stefan Reindl, Direktor des Geislinger Instituts für Automobilwirtschaft, sieht in der Kreislaufwirtschaft und Dekarbonisierung noch große Baustellen für nahezu alle Player der Automobilindustrie. „Hatten die Unternehmen in den letzten Jahren hauptsächlich Kosten und Qualität als zentrale Stellhebel auf dem Radar, kommt jetzt noch quasi on top das Thema Klimaneutralität im Hinblick auf die gesamte Wertschöpfungskette dazu“, sagt Reindl. Die Kunst für die Hersteller weltweit besteht seiner Ansicht nach vor allem auch in einem effizienten Monitoring und Con­trolling der jeweiligen Zulieferer, um zum einen die von den Gesetzgebern gesteckten Klimaziele zu erreichen, zum anderen aber auch die „grüner“ werdenden Autokäufer für sich zu gewinnen. „Nachhaltigkeit wird in Zukunft ein ganz entscheidender Kaufgrund sein“, prophezeit der Automobilexperte.