Verkehrsscreening: Die Geheimwaffe gegen Unfalltote
Null Verkehrstote – das strebt die Vision Zero an. Um den Straßenverkehr sicherer zu machen, setzt Baden-Württemberg unter anderem auf das Verkehrssicherheitsscreening. Dipl.-Ing. Martin Pozybill erklärt, was sich genau dahinter verbirgt.

Das Screening ist ein ganz wesentliches Element im Verkehrssicherheitskonzept des Landes Baden-Württemberg. Auf einer Plattform werden dabei alle relevanten Informationen ausgewertet. Foto: Fotolia – Maxim Kazmin.
Mit dem webbasierten Verkehrssicherheitsscreening identifiziert das südwestdeutsche Bundesland Straßenabschnitte, an denen es häufig kracht. Unfallhotspots können dadurch mit konkreten Maßnahmen entschäft werden. Dipl.-Ing. Martin Pozybill vom baden-württembergischen Verkehrsministerium hat das Projekt maßgeblich in die Wege geleitet. Redakteur Matthias Gaul traf ihn zum Gespräch.
Im Jahr 2020 sollen auf den Straßen Baden-Württembergs 40 Prozent weniger Menschen ums Leben kommen als 2010. Mit diesem Ziel will das Verkehrsministerium der Vision Zero einen weiteren Schritt näherkommen. Herr Pozybill, welchen Beitrag kann das Verkehrssicherheitsscreening leisten?
Pozybill: Das Screening ist ein ganz wesentliches Element im Verkehrssicherheitskonzept des Landes Baden-Württemberg. Auf einer gemeinsam mit dem Unternehmen DTV-Verkehrsconsult konzipierten Plattform werden dabei alle relevanten Informationen ausgewertet. Die Ergebnisse werden in thematischen Karten dargestellt. Mit diesem besonderen System haben wir es beim international ausgerichteten eGovernment-Wettbewerb 2018 auf den ersten Platz in der Kategorie „Bestes Infrastrukturprojekt“ geschafft.
Worum geht es konkret beim Verkehrssicherheitsscreening?
Pozybill: Das Screening führt für das gesamte übergeordnete Straßennetz von Baden-Württemberg – also für Bundesautobahnen wie auch für Bundes-, Landes- und Kreisstraßen – alle Informationen auf einer zentralen Rechnerplattform zusammen. Für die Verkehrssicherheitsarbeit relevante Daten sind zum Beispiel die monatlich aktualisierten Unfalldaten der Polizei. Hinzu kommen die durchschnittlichen täglichen Verkehrsmengen der Straßenverkehrszählung und die Auswertung der Fahrzeuggeschwindigkeiten aus dem kontinuierlichen Verkehrsmonitoring an mittlerweile rund 5.000 Zählstellen. Ausgewertet werden zudem das Straßennetz inklusive der Breiten und der Aufbaudaten aus der Straßendatenbank sowie die Straßenzustände mit zugehöriger Straßengeometrie und Streckenfotos aus den alle vier Jahre aktualisierten Straßenzustandsbefahrungen.

„Ein Screening dieser Art dürfte europaweit bislang einzigartig sein“, sagt Martin Pozybill vom baden-württembergischen Verkehrsministerium. Er zeigt einen Leitpfosten mit integrierter Zähltechnik an der L 1359 bei Gäufelden-Öschelbronn. Foto: Matthias Gaul
Auf Basis der vorliegenden Daten führen wir einmal im Jahr eine landesweite Verkehrssicherheitsanalyse durch. Hierbei bewerten wir volkswirtschaftlich sämtliche Unfälle, meist eines Dreijahreszeitraumes, und setzen sie in Bezug zum durchschnittlichen täglichen Verkehr am Unfallort. Darüber hinaus führen wir Netzbewertungen und Sonderuntersuchungen durch, die einzelne Unfalltypen oder Fahrzeugarten separat betrachten. Dazu gehören das Abkommen von der Fahrbahn und der Aufprall auf ein Hindernis, außerdem Lkw-Unfälle, Motorradunfälle oder Unfälle im Längsverkehr.
Und die Ergebnisse sind dann in Streckenkarten ablesbar?
Pozybill: Ja, in einer digitalen Karte lassen sich die Streckenabschnitte und Knotenpunkte je nach Unfallbelastung farblich in Grün, Gelb oder Rot anzeigen. Zusätzlich gibt es sogenannte Verkehrssicherheitssteckbriefe, die bis zu 700 Einzelinformationen thematisch gegliedert zusammenfassen. Jeder Steckbrief repräsentiert in der Regel einen genau 100 Meter langen Streckenabschnitt der betroffenen Straße. Bei einer Gesamtnetzlänge von rund 26.000 Kilometern im Land sind dies 295.000 einzelne Steckbriefe. Jeder Steckbrief einer Straßenkategorie hat eine Rangnummer, damit die rund 150 Unfallkommissionen in Baden-Württemberg gezielt auf die kritischsten Stellen im Netz aufmerksam werden.
Das Screening ist somit ein ideales Werkzeug zur Vor- und Nachbereitung des immer notwendigen Vor-Ort-Termins. Ebenso ermöglicht das Ranking, die zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel zur Verbesserung der Straßeninfrastruktur dort einzusetzen, wo der Bedarf am dringendsten ist. So kann die Verkehrssicherheit nachhaltig erhöht werden. Die „Vision Zero“ ist unser oberstes Ziel.

Die Leitpfosten-Zählgeräte erfassen automatisch das Verkehrsaufkommen und übersenden die Verkehrszähldaten über GSM an eine Zentrale zur Auswertung. Foto: Matthias Gaul
Sie gehen beim Screening also sehr ins Detail.
Pozybill: Absolut richtig. Wir können für einen Landkreis sämtliche Stellen im Bundesstraßennetz mit schlechtem Fahrbahnzustand identifizieren, die etwa ein hohes Unfallaufkommen der Motorradfahrenden im Kurvenbereich haben und bei dem Fahrzeuge zudem erheblich zu schnell gefahren sind. Weiterhin lassen sich für das Straßennetz von Baden-Württemberg sämtliche rund 270.000 Verkehrsunfälle seit 2010 nach über 100 verschiedenen Einzelkriterien auswerten.
Wir können zum Beispiel sämtliche Unfälle auf der Schwarzwaldhochstraße B 500 (zwischen dem 1. Dezember 2014 und 31. November 2017) ermitteln, die von April bis September am Wochenende auf trockener Fahrbahn mit folgenden Kriterien passierten: Motorradfahrer, die nicht mit angepasster Geschwindigkeit fuhren, von der Straße abkamen, danach auf einen Baum oder eine Schutzplanke prallten und dabei schwer verletzt wurden. Übrigens: An der B 500 sanken die Motorradunfälle nachdem Kurvenleittafeln aufgestellt wurden von 21 (zwischen 2012 und 2014) auf neun Motorradunfälle zwischen 2015 und 2017.
Ich denke, wir haben mit dem Verkehrssicherheitsscreening echte Pionierarbeit geleistet. Ein Screening dieser Art dürfte europaweit bislang einzigartig sein.