Windenergie – die himmlische Ressource

Author: Joachim Geiger

24. Nov. 2021 Nachhaltigkeit

In alten Märchen gilt der Wind als himmlisches Kind, in Zeiten des Klimawandels avanciert er jedoch zur unverzichtbaren Ressource. Europa, das steht längst fest, braucht mehr Windenergie. Aber wie lässt sich dieses Potenzial am besten nutzen? An Land oder auf See? DEKRA Solutions hat sich aktuelle Technologien und Projekte genauer angesehen.

Der European Green Deal der EU-Kommission hätte die Hilfe himmlischer Mächte bitter nötig. Immerhin sieht das im Juni vom EU-Parlament gebilligte Klimagesetz vor, dass die Treibhausgasemissionen in der Union im Vergleich zu 1990 um 55 Prozent zu reduzieren sind. Realisieren lassen sich diese Vorgaben letztlich nur durch die konsequente Nutzung der Windenergie, genauer: der kinetischen Energie aus dem Wind, um damit Strom zu produzieren. Wie der europäische Branchenverband Wind Europe in Brüssel vor Kurzem festgestellt hat, ist es höchste Zeit, dass die EU zur Erreichung des Klimaziels den Ausbau ihrer Windenergiekapazitäten enorm steigert – von 15 Gigawatt (GW) im letzten Jahr auf mindestens 30 GW, die künftig Jahr für Jahr zu installieren wären (Gesamtleistung On- und Offshore in der EU 2020: rund 220 GW). Für die Windindustrie sind das ambitionierte Ziele, zumal in vielen europäischen Ländern der Landschafts- und Umweltschutz sowie langwierige Genehmigungsverfahren neuen Windkraftanlagen immer wieder den Wind aus den Rotoren nehmen. Trotzdem stehen die Chancen gut, dass sich die Windstromerzeugung steigern lässt. Eine Rolle spielen dabei hoch effiziente Anlagen.
Windenergieanlagen legen an Größe deutlich zu
Landauf, landab experimentieren Startups mit innovativen Flugwindkraftanlagen, die in Höhen zwischen 200 und 400 Metern aufsteigen, um dort mit Hilfe von Generator-Seilwinden die ergiebigen Höhenwinde zur Stromproduktion nutzbar zu machen. Allerdings ist noch einige Entwicklungsarbeit nötig, bis diese Anlagen einen bedeutsamen Beitrag leisten können. Die Hauptlast der Stromerzeugung liegt vorerst bei den klassischen Onshore-Windkraftanlagen mit Turm, Gondel und Rotor. Auch diese Systeme haben in den letzten Jahren deutlich an Effizienz zugelegt. Eine im Oktober 2020 im Auftrag des Bundesverbands Windenergie veröffentlichte Studie belegt, dass moderne Windkraftanlagen an Land heute etwa zehnmal so viel Strom produzieren wie vor 20 Jahren. Möglich wurde diese Leistungssteigerung vor allem durch ein deutliches Größenwachstum der Anlagen – der mittlere Rotordurchmesser hat sich von rund 60 Metern im Jahr 2000 bis zum Jahr 2019 etwa verdoppelt. Heute liegen die Rotordurchmesser zwischen 133 und 170 Metern. Die Nabenhöhen variieren zwischen 90 und 166 Metern, die Nennleistung größerer Anlagen liegt bei 6,6 Megawatt, kleinere Einheiten leisten rund vier Megawatt. Was aber bringen diese Kennwerte unterm Strich? Die Autoren der Windenergie-Studie ziehen am Beispiel von Deutschland ein klares Fazit: Durch den Einsatz moderner Windenergieanlagen lasse sich allein auf den bisher ausgewiesenen Flächen – das entspricht rund einem Prozent der Fläche für Windenergie im Binnenland – die Windstromerzeugung auf über 200 Terrawatt Stunden (TWh) bis 2030 verdoppeln, was rund 40 Prozent des Strombedarfs entspräche.
Im Windpark ist weniger manchmal mehr
Auf den ersten Blick scheint es daher sinnvoll, die Kapazitäten der Windparks möglichst großzügig zu bemessen. Allerdings kann eine Planung nach dem Motto „Viel hilft viel“ auch zu einer falschen Kalkulation führen. Der erwarteten höheren Stromausbeute stehen nämlich physikalische und wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten entgegen, wie DEKRA Experte Christian Leward erklärt. Der Schwede ist Direktor Windenergie in der DEKRA Service Division Industrial Inspection. DEKRA – hier geht´s zum Angebot – unterstützt Errichter und Betreiber von Windenergieanlagen in allen Projektphasen mit umfassenden Beratungs- und Prüfdienstleistungen – unter anderem bei Werkstoffauswahl und Entwicklung über Zertifizierungs- und Genehmigungsverfahren, begleitende Prüfungen und Inspektionen während der Errichtungsphase bis hin zur Inbetriebnahme und Betrieb. „Wenn in einem Windpark mehrere Anlagen in Windrichtung hintereinanderstehen, kann es dadurch zu einer wechselseitigen Verschattung kommen. Sie nehmen sich dann gegenseitig den Wind weg und können ihre Leistungsfähigkeit nicht voll ausspielen“, weiß Christian Leward. Bei kleineren Flächen kann es also sinnvoll sein, die Zahl der Anlagen zu reduzieren, wenn sich dadurch im Gegenzug der Wirkungsgrad der Gesamtanlage verbessern lässt.
Die Zukunft der Windenergie liegt wohl auf dem Wasser
Aber möglicherweise liegt die Zukunft der Windenergie gar nicht auf dem Land? Immer mehr Anlagenhersteller und Stromproduzenten zieht es bei der Installation neuer Kapazitäten hinaus aufs Meer, wo kräftige Winde ungestört über der Wasseroberfläche wehen. Experten gehen davon aus, dass Windkraftanlagen auf See eine um rund 20 Prozent höhere Stromausbeute als vergleichbare Anlagen an Land erreichen. Bereits heute stoßen die Hersteller mit ihren Offshore-Anlagen in unglaubliche Leistungssphären vor. Internationaler Spitzenreiter ist derzeit ein Prototyp von General Electric Renewable Energy: Die mit drei jeweils 107 Meter langen Rotorblättern ausgestattete Haliade-X-14 MW ragt 260 Meter in die Höhe und soll eine Nennleistung von 14 MW erzeugen – bei dieser Anlage reicht eine Drehung des Rotors, um ein Haus zwei Tage mit Energie zu versorgen. Tatsächlich sieht die Europäische Union in der Offshore-Technologie eine künftige Hauptkomponente des europäischen Energiesystems. Bis 2050 will die EU 300 GW Offshore-Windenergieleistung mit bodenfesten und schwimmenden Anlagen installieren. Bislang dominieren auf See die Offshore-Anlagen, die in flacheren Küstengewässern bis zu 50 Meter Tiefe mit aufwändigen Fundamenten im Meeresboden verankert werden. Allerdings eignen sich nur rund fünf Prozent der Meeresgebiete als Standort für diese Technologien. In den Gewässern der EU sind derzeit 12 GW mit dieser Technologie installiert. Noch besser könnte in Zukunft die Stromausbeute mit schwimmenden Windkraftanlagen ausfallen – sie lassen sich in Meerestiefen einsetzen, die für konventionelle Offshore-Technik nicht mehr erreichbar ist. Das Portfolio der schwimmenden Anlagen fällt derzeit noch überschaubar aus – die in der EU installierte Leistung beträgt rund 40 MW. Allerdings haben bereits mehrere Mitgliedstaaten größere Projekte angekündigt.
Übersicht: wichtige Offshore-Projekte gestern, heute und morgen
Alpha Ventus – vor zehn Jahren begann das Zeitalter der Offshore-Windenergie
Alpha Ventus, der erste Offshore-Windpark in Deutschland, ging bereits im Frühjahr 2010 in der Deutschen Bucht an den Start. Der Windpark, in einer Wassertiefe von rund 30 Metern installiert und 65 Kilometer vor der Küste gelegen, bestand aus Anlagen mit einem Rotordurchmesser von 126 Metern bei einer Nabenhöhe von 93 Metern. Bis 2019 hat der Windpark Jahr für Jahr im Jahresdurchschnitt soviel Strom ins Netz eingespeist wie 57.000 durchschnittliche Haushalten in Deutschland verbrauchen. Aktuell sind in der Deutschen Bucht Windenergieanlagen mit einer Leistung von rund 6.700 MW installiert.
East Anglia One vor der britischen Ostküste – einer der größten Windparks der Welt
Einer der größten Offshore-Windparks der Welt befindet sich 43 Kilometer vor der britischen Ostküste auf Höhe der Grafschaft Suffolk. Auf einer Fläche von rund 300 Quadratkilometern umfasst East Anglia One 102 Windturbinen mit einem Rotordurchmesser von 154 Metern und einer Gesamtkapazität vom 714 MW. Die Anlagen stehen auf einer 65 Meter hohen und über 800 Tonnen schweren dreibeinigen Stahlplattform, die 45 Meter tief auf den Meeresboden reicht. East Anglia One wurde im Juli 2020 fertiggestellt und ist der erste von insgesamt vier Parks, die in der Region mit einer Kapazität von 3500 Megawatt entstehen sollen.
Kriegers Flak vor der dänischen Küste – der größte Windpark Skandinaviens
Dänemark hat Anfang September 2021 den Offshore-Windpark Kriegers Flak in Dienst gestellt. Der Windpark liegt 15 bis 40 Kilometer vor der dänischen Küste in der Ostsee und erstreckt sich über eine Fläche von 132 Quadratkilometern. Die Anlage besteht aus 72 Windturbinen mit einem Rotordurchmesser von 167 Metern und Gesamthöhe von 187 Metern. Die Fundamente bringen jeweils bis zu 800 Tonnen auf die Waage. Mit einer installierten Leistung von 604 MW gilt Kriegers Flak als der größte Windpark Skandinaviens. Er soll den jährlichen Energieverbrauch von rund 600.000 dänischen Haushalten decken.
Schwimmender Windpark Hywind Scotland
Der erste schwimmende Windpark der Welt ist der 2017 eröffnete Windpark „Hywind Scotland“, der rund 30 Kilometer vor der Küste Schottlands in einer Wassertiefe von 95 bis 120 Metern in der Nordsee installiert ist. Der rund vier Quadratkilometer große Park besteht aus fünf Windkraftanlagen mit jeweils knapp 100 Meter hohem Turm und 75 Meter langen Rotorblättern. Die Gesamtleistung der Anlage beträgt 30 MW. Die Turbinen sitzen auf rund 90 Meter langen und 3.500 Tonnen schweren Schwimmkörpern, die von Stahlketten in Position gehalten werden.
Windkraftanlage „Nezzy²“ lernt in der Ostsee schwimmen
Das Forschungsprojekt Nezzy² des norddeutsche Ingenieurunternehmens aerodyn engineering besteht aus zwei Windturbinen auf einem schwimmenden Fundament aus Betonfertigteilen, das sich selbstständig durch die Windströmung ausrichtet und mit sechs Leinen am Meeresboden verankert ist. Die beiden Windturbinen werden von zwei im Zentrum des Fundaments schräg aufgestellten Türmen getragen. Nezzy² gibt es derzeit nur als ein 18 Meter hohes Modell im Maßstab 1:10, das vor Kurzem einen zweimonatigen Test im Greifswalder Bodden in der Ostsee erfolgreich bestanden hat. Anfang 2022 soll ein Prototyp in Originalgröße vor der Küste Chinas seinen Einstand geben. Geplant ist eine Leistung von rund 15 MW.
Windcatcher aus Norwegen
Der Windcatcher des 2017 gegründeten Unternehmens Wind Catching Systems aus Norwegen ist ein quadratischer Gitterrohrrahmen mit rund 320 Meter Seitenlänge, der auf einem im Meeresboden verankerten Schwimmkörper fixiert ist. In diesem Gerüst sind rund 100 kleine Rotoren montiert, die zusammen fünfmal so viel Strom liefern sollen wie die größten Windräder. Der Windcatcher nimmt im Vergleich zu herkömmlichen Anlagen nur ein Fünftel der Fläche in Anspruch. Gleichzeitig soll er einen größeren Wirkungsbereich haben, weil die kleineren Rotoren auch bei Windgeschwindigkeiten jenseits von sechs Beaufort mit voller Leistung Strom produzieren. Das spektakuläre Projekt existiert bislang nur in Simulationen, die ersten Prototypen soll nächstes Jahr zum Einsatz kommen.
Funktionsweise einer Windkraftanlage
Bei Windkraftanlagen haben sich zwei verschiedene Konstruktionsprinzipien durchgesetzt: Anlagen mit Getriebe (A) erhöhen die niedrige Drehzahl des Rotors auf eine für den Generator günstige Drehzahl. Bei getriebelosen Anlagen (B) sitzt der Rotor des Generators direkt auf der Rotorwelle.