Ihre Daten, bitte!

Author: Joachim Geiger

11. Mai 2022 Digitalisierung

Fahrzeugdaten sind ein gut behütetes Geheimnis. Das neue europäische Datengesetz soll für Transparenz sorgen – und könnte die Polizeiarbeit bei der Unfallaufnahme in Europa auf ein neues Level heben. Auch für die Unfallanalytik und die Fahrzeugprüfung wird der geregelte Zugriff auf Fahrzeugdaten in Zukunft unerlässlich sein.

Herr Orben, Sie sind Präsident des Netzwerks der Verkehrspolizeien der Mitgliedsländer der Europäischen Union. Wozu ist ROADPOL gut?
Volker Orben: ROADPOL initiiert zum Beispiel in regelmäßigen Abständen bei den Polizeien in ganz Europa Kontrollwochen zur Einhaltung der Straßenverkehrsgesetze. In allen Ländern hat die Polizei die Aufgabe, den Straßenverkehr zu überwachen. Ohne Überwachung – das ist wissenschaftlich belegt – sind die besten Verkehrsvorschriften zur Vermeidung der Hauptunfallursachen im Hinblick auf Geschwindigkeit, Alkohol und Drogenkonsum, Abstand, Anschnall- und Helmpflicht und Ablenkung ohne ausreichenden Nutzen, weil die Befolgungsrate vergleichsweise gering wäre. Verkehrsüberwachung erhöht die Befolgungsrate und rettet letztlich Leben. In regelmäßigen Meetings und Seminaren unseres Netzwerks ist die Analyse der Ergebnisse der Kontrollwochen TOP 1 auf der Tagesordnung. Dabei geht es immer um die Frage, welche Überwachungsmaßnahmen die beste Wirkung haben. Mit den Ergebnissen der europaweiten Kontrollwochen liefert ROADPOL wichtige Erkenntnisse über die Häufigkeit der Verstöße, die als Ursachen insbesondere für schwere Unfälle in Frage kommen. Das findet auch bei der Europäischen Kommission Beachtung. Nicht zuletzt deshalb wird ROADPOL von der Europäischen Kommission finanziell unterstützt.
Wie steht es in Europa mit der Einheitlichkeit von Vorschriften und Polizei?
Orben: Bei der Implementierung der „what works“ spielt natürlich der nationale gesetzliche Rahmen eine entscheidende Rolle. Allerdings wird immer wieder deutlich, dass eine Harmonisierung von Verkehrsvorschriften in Europa zu einer höheren Befolgungsrate und damit zu mehr Verkehrssicherheit beitragen würde. Als Beispiel sei die Bildung von Rettungsgassen genannt, die in Europa unterschiedlich oder gar nicht geregelt ist. Ansonsten sind die Polizeien in Europa, was die Aufgabenzuweisung für den Bereich Verkehr betrifft, sehr heterogen. In Deutschland zum Beispiel ist eine Polizeikontrolle immer ganzheitlich zu sehen. Insofern gibt es in Deutschland keine Verkehrspolizei als solche. Es gibt aber auch Länder, die verfügen organisatorisch über eine sogenannte Verkehrspolizei – und die hat dann mitunter nicht einmal die rechtliche Befugnis, den Beifahrer in einem Fahrzeug zu kontrollieren. ROADPOL fördert den ganzheitlichen oder auch integrativen Ansatz.
Welche hoheitlichen Aufgaben neben der Verkehrsüberwachung haben die Verkehrspolizeien in Europa sonst noch?
Orben: Ein wichtiges Aufgabenfeld ist die Verkehrsunfallaufnahme. In allen Ländern wird von der Polizei erwartet, dass sie bei einem Verkehrsunfall Beweise für das Straf- und Zivilverfahren sichert. Das ist in erster Linie im Interesse der am Verkehrsunfall Beteiligten. Hier gibt es in der Regel einen Verursacher und ein Opfer, dessen Rechte durch die polizeiliche Unfallaufnahme gewahrt werden. Zivilprozesse zum Ersatz von materiellen, körperlichen und psychischen Schäden nach einem Unfall ziehen sich zum Teil über Jahre hin. Je weniger konkret und beweissicher die Polizei die Ursachen eines Unfalls ermitteln kann, desto schwerer fällt es dem Opfer, später seine Ansprüche durchzusetzen – und vice versa. Beweissichere Ermittlungen sind somit gelebter Opferschutz.
Unfallermittlungen der Polizei haben aber auch das Ziel, einen Verkehrsverstoß zu verfolgen?
Orben: Die Ahndung eines Verkehrsverstoßes in Form einer Geld- oder Gefängnisstrafe hat zwei Zielrichtungen. Sie richtet sich als sogenannte Spezialprävention an den Täter und besagt: „Du hast einen Fehler gemacht oder absichtlich gegen Verkehrsvorschriften verstoßen – mache das nicht wieder“. Zum anderen richtet sie sich im Sinne einer Generalprävention an alle Verkehrsteilnehmer: „Gebt acht, dass euch das nicht auch passiert.“ Beiden Zielrichtungen ist gemein, dass es um die Vermeidung von Verkehrsverstößen geht, die nachweislich zu schweren Crashs führen – nicht darum, den Bürgerinnen und Bürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Wie läuft in Zeiten zunehmender Digitalisierung des Verkehrssektors heute eine Unfallaufnahme in Europa typischerweise ab?
Orben: In einem grenzenlosen Europa fahren jetzt schon vernetzte Fahrzeuge und künftig auch mehr und mehr automatisiert fahrende Kfz. Bei Verkehrsunfällen muss die Polizei in allen Ländern mit einfachen Maßnahmen in der Lage sein, auch digitale Spuren wie die Fahrzeugdaten zu sichern. Und dieser Bedarf besteht nicht erst in der Zukunft. Schon jetzt stellen wir fest, dass sich Unfälle ohne das Auslesen der Datenspeicher oft nicht mehr in Gänze aufklären lassen. Damit meine ich etwa Unfälle, bei denen die Fahrer behaupten, Fehlfunktionen von Fahrerassistenzsystemen seien Ursache für den Unfall. Die weitere Digitalisierung der Verkehrsunfallaufnahme ist daher dringend notwendig. Das bedingt auch eine digitale Aufrüstung der europäischen Polizeien – hier laufen bereits in ganz Europa die entsprechenden Anstrengungen.
Der Entwurf des neuen Datengesetzes dürfe Ihnen dabei gut zupasskommen. Ist der EU Data Act ein geeigneter Hebel, um an die benötigten Daten zu kommen?
Orben: Der EU Data Act soll für Privatwirtschaft und öffentliche Stellen Datenzugang gewährleisten und Anreize für eine gemeinsame Nutzung setzen. In der derzeitigen Fassung des Data Act wird der Zugriff auf Daten zur Strafverfolgung in Art. 16 Abs. 2 noch ausgeschlossen. Ist der Verkehrsverstoß, der zum Unfall geführt hat, von strafrechtlicher Relevanz, dann ist die Polizei aufgrund des Legalitätsprinzips jedoch verpflichtet, Strafverfolgungsmaßnahmen einzuleiten. Vor diesem Hintergrund muss der Zugriff auf Fahrzeugdaten bei Verkehrsunfallermittlungen auch zur Strafverfolgung zulässig sein – die Entwurfsfassung des Data Acts muss daher entsprechend angepasst werden. Im Ergebnis ist der EU Data Act aber ein brauchbarer Ansatz, den für die Polizei zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Datenzugang zu regeln.
Was kann das Datengesetz im Hinblick auf den Datenzugang leisten?
Orben: Das Datengesetz verpflichtet die Produkthersteller – und damit auch die Fahrzeughersteller – zur Datentransparenz. Die Nutzer sollen einen einfachen Zugang zu den Daten haben, die das Produkt, in diesem Fall das Fahrzeug, generiert. Der Nutzer muss zudem darüber informiert werden, wie er Zugang zu den Daten erhalten kann. Damit ist schon mal eine wichtige Voraussetzung geschaffen: Es muss ein einfacher und konkret zu beschreibender Weg zum Datenzugang geschaffen werden. Über diesen Weg sollte auch hoheitlichen Stellen wie der Polizei ein Zugang möglich werden, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist.
Wie könnte dieser Weg zum Datenzugang aussehen?
Orben: Die Zugangsproblematik zeigt Regelungsbedarf auf. Zielführend wäre eine Lösung, die neben dem Fahrzeughersteller auch für eine neutrale und unabhängige Stelle unmittelbaren Zugang zu den Fahrdaten vorsieht. Berechtigte Datennutzer – also etwa die Polizei – können sich an diese Stelle wenden und erhalten die benötigten Daten zur Erfüllung ihrer hoheitlichen Aufgaben. In der Praxis könnte das so aussehen, dass die Polizei bei der autorisierten Stelle die gespeicherten Fahrdaten als Beweismittel für die Verkehrsunfallermittlung anfragt und in lesbarem Klartext erhält.
Welche Beschränkungen stehen aktuell einer Nutzung von Daten aus dem Kraftfahrzeug entgegen?
Orben: Derzeit haben die Fahrzeughersteller quasi Herrschaftswissen. Bei Ermittlungen – und jetzt kann ich nur für die polizeilichen Aufgaben im Bereich Verkehr sprechen – müssen die Fahrzeughersteller um wohlwollende Zusammenarbeit gebeten werden, meist auf Grundlage von Beschlüssen von Staatsanwaltschaft oder Gericht. Es gibt keine geregelte Verfahrensweise über eine zentrale, unabhängige Stelle, die die Ermittlungsbehörden unterstützt. In der Regel werden Sachverständige hinzugezogen, die die in den unterschiedlichsten Formaten von den Fahrzeugherstellern zur Verfügung gestellten Daten aufbereiten und damit Rückschlüsse auf das Unfallgeschehen bzw. die Unfallursache ziehen.
Haben Ihre Kollegen in Europa schon Erfahrungen mit Datenabfragen, wenn automatisierte Fahrzeuge betroffen sind?
Orben: Unsere ROADPOL-Mitglieder berichten zunehmend über Datenabfragen, die mehr oder weniger erfolgreich waren. Man habe schon mal ein ungutes Gefühl und Bedenken, ob die vom Fahrzeughersteller gelieferten Daten denn auch wirklich die unveränderten Daten sind, die das Fahrzeug generiert hat. Schließlich könnten ja auch Fehlfunktionen des Fahrzeugs unfallursächlich sein, die der Hersteller verständlicherweise nicht preisgeben möchte. Auch dieser Aspekt macht deutlich, dass die Fahrdaten unmittelbar bei einer unabhängigen Stelle gespeichert werden sollten. Die Speicherung allein beim Hersteller unterbricht zudem die Beweiskette.
Sitzt mit der Möglichkeit einer hoheitlichen Datenabfrage künftig stets der Big Brother mit im Auto?
Orben: Wir reden über Datenzugriff bei mitunter schwersten Verkehrsunfällen. Die Polizei hat einen konkreten Tatverdacht und die Polizei kennt bereits den Tatverdächtigen, also den Fahrer eines unfallbeteiligten Fahrzeugs. Es besteht eine sehr hohe und sehr konkrete Auffindevermutung bezüglich unfallrelevanter Daten. Auch der Zeitausschnitt ist sehr konkret – in der Regel reichen fünf Sekunden vor und 350 Millisekunden nach dem Crash für die Unfallrekonstruktion aus. Von Big Brother, der heimlich und ohne Verdacht willkürlich alle Bürgerinnen und Bürger überwacht, kann also keine Rede sein.
Wären Daten zur Optimierung der Verkehrsüberwachung nicht eine feine Sache?
Orben: Nach meinem Kenntnisstand bestehen derzeit in Europa keine Absichten oder gar Forderungen, Daten unabhängig von einem Unfallgeschehen beispielsweise für Verkehrsüberwachungsmaßnahmen zu erheben. Aus Sicht des Netzwerks der europäischen Verkehrspolizei ist es so, dass wir Verkehrsverstöße ahnden möchten – das ist unsere Aufgabe und dient der Verkehrssicherheit. Aber nicht um jeden Preis. Wir haben Verständnis, dass es hier aus rechtsstaatlichen Gründen klare, einschränkende Bestimmungen geben muss.
ROADPOL
Das „European Roads Policing Network“, kurz ROADPOL, ist ein Netzwerk der Verkehrspolizeien der Mitgliedsländer der Europäischen Union. Die Nicht-Regierungsorganisation hat die Aufgabe, europaweit nationale Aktionen zur Durchsetzung der Vorschriften im Verkehrssektor zu koordinieren. Hauptziel ist die Reduzierung der Getöteten und Schwerverletzten auf den Straßen Europas. Vor diesem Hintergrund schreibt sich ROADPOL das Anliegen auf die Fahne, dass die Polizei in möglichst allen EU-Ländern dazu in der Lage sein soll, alle verfügbaren Beweismittel zu sichern, die für eine Unfallrekonstruktion erforderlich sind. Dazu gehören auch die digitalen Fahrdaten. Eine zentrale Forderung in diesem Zusammenhang ist ein verlässlicher, ungefilterter Datenzugang – auch für technisch weniger versierte Staaten. Deutschland wird im Europa-Netzwerk seit Oktober 2016 durch das Land Rheinland-Pfalz vertreten. Als eingetragener Verein hat ROADPOL seinen Sitz an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster.
Neues Datengesetz
Die Europäische Kommission drückt mit dem am 23. Februar vorgelegten Entwurf für ein neues Datengesetz (Data Act) kräftig aufs Gaspedal, um den digitalen Wandel in den Mitgliedsstaaten voranzubringen. Während das im November 2020 auf den Weg gebrachte Daten-Governance-Gesetz die Weitergabe von Daten zwischen Sektoren und Mitgliedsstaaten erleichtern soll, legt das Datengesetz künftig fest, wer die erzeugten Daten nutzen und darauf Zugriff haben darf. Dem Gesetzgeber geht es letztlich darum, Verbrauchern und Unternehmen mehr Mitspracherecht beim Umgang mit ihren Daten einzuräumen. Allerdings lässt gerade die Nutzung der Daten im Automobilbereich noch einige Fragen offen. Gemeinsam mit dem europäischen Verkehrspolizeinetzwerk ROADPOL hat DEKRA den Entwurf des Data Act kommentiert. Der klare Tenor: Die geplanten Regelungen müssen auch den Zugriff auf Daten abdecken, die für hoheitliche Tätigkeiten wie Unfallanalytik, Fahrzeugprüfung und Strafverfolgung benötigt werden. Das Datengesetz befindet sich bereits auf der Reise durch die EU-Institutionen. Läuft alles rund, kann das Gesetz noch in diesem Jahr in Kraft treten.