Ist der Biofidel-Dummy auch nur ein Mensch?

Author: Joachim Geiger

31. Aug. 2022 Innovation / Sicherheit im Verkehr / Automobil

Wenn der Biomechaniker Andreas Schäuble Crashtests mit Radfahrern inszeniert, dann endet der Versuch meist mit gebrochenen Knochen und gerissenen Bändern. Dass die Verletzungen des Dummys und die Schäden am Auto sehr nah an der Realität dran sind, liegt auch am Konzept des neuen Biofidel-Dummys. Der DEKRA Experte erklärt, um was es dabei geht.

Herr Schäuble, Sie sind Maschinenbauingenieur mit Masterabschluss von der Universität Manchester und haben obendrein ein Diplom in Biomedizinischen Ingenieurswissenschaften der Technischen Universität Wien in der Tasche. Wie kommt man mit dieser Ausbildung zur DEKRA Unfallforschung?
Andreas Schäuble: Mich hat schon als kleiner Junge die Vorstellung fasziniert, dass ich im Beruf einmal Autos kaputt machen und Unfälle untersuchen könnte. Als Student habe ich später – das war 2012 – im Rahmen eines Praktikums bei den Crashtests im schweizerischen Wildhaus ausgeholfen, die DEKRA damals zusammen mit der AXA Winterthur Versicherung durchgeführt hat. Nach dem Master in Manchester hat sich die Chance ergeben, in Wien ein Studium der Biomechanik dranzuhängen. Ich habe die Gelegenheit beim Schopf gepackt, weil mir das als perfekte Ergänzung erschien, um das Zusammenspiel von passiver Fahrzeugsicherheit und Verletzungen tiefgründig untersuchen zu können. Als 2018 eine Stelle in der DEKRA Unfallforschung frei wurde, habe ich mich beworben und den Job bekommen.
Wie lautet heute ihre Berufsbezeichnung?
Schäuble: Ich bin Biomechaniker bei der DEKRA Unfallforschung. Hier betrachten wir den gesamten Bereich des Straßenverkehrs. Meine Schwerpunkte sind derzeit der Fußgängerunfall und Forschungen zum Biofidel-Dummy. Ein Hauptaugenmerk gilt dabei der Frage, inwieweit das Beschädigungsmuster des Biofidel-Dummys nach einem Crashversuch mit dem Verletzungsmuster eines Menschen nach einem Unfall vergleichbarer Schwere übereinstimmt. Dazu habe ich auch nebenberuflich mit Unterstützung von DEKRA meine Diplomarbeit geschrieben. Für mich war das ein absoluter Glücksfall, dass ich über meine Diplomarbeit mein Aufgabenfeld bei der DEKRA Unfallforschung begründen konnte.
In Ihrer Diplomarbeit und weiteren aktuellen wissenschaftlichen Artikeln befassen Sie sich mit der Forschung über den Biofidel-Dummy. Welche Motivation steckt dahinter?
Schäuble: Der Anstoß für die Diplomarbeit kam von unseren Kollegen in der DEKRA Unfallanalytik. Wenn zwei Autos miteinander kollidieren, dann gibt es neben den Fahrzeugdeformationen häufig entsprechende Schlagmarken oder Kratzspuren auf der Fahrbahnoberfläche. Die Analytiker haben in diesem Fall viele Anhaltspunkte. Erfasst jedoch ein Auto einen Fußgänger, dann finden sich auf der Fahrbahn häufig fast gar keine Spuren. Bevor der Biofidel-Dummy aber für die Zwecke der Unfallanalytik – also der Rekonstruktion von Unfällen für Gerichte – eingesetzt werden kann, muss klar sein, wie realistisch und wie ähnlich dem Menschen die Dummy-Daten überhaupt sind. Der Hintergedanke dabei ist, dass man einen Verkehrsunfall mit dem Biofidel-Dummy nachstellt und anhand der Beschädigungen an Dummy und Fahrzeug den Unfallhergang rekonstruiert. Das Ergebnis der Forschungsarbeiten war am Ende eindeutig – die Crashversuche mit dem Biofidel-Dummy bringen für bestimmte Unfallszenarien Ergebnisse, wie man sie auch beim Menschen erwarten würde.
Wie unterscheiden sich die Biofidel-Dummys von ihren konventionellen Kollegen?
Schäuble: Dummys sind in der Unfallforschung generell unerlässlich. Der Vorteil der konventionellen Dummys, die entsprechend zertifiziert sind, besteht darin, dass sie reproduzierbare und validierte Messungen produzieren, ohne in der Regel dabei beschädigt zu werden. Mit den Standard-Dummys kann man in Crashtests dank umfangreicher Sensorik relevante Belastungswerte messen. Anhand dieser Werte lässt sich dann beurteilen, wie hoch ein bestimmtes Verletzungsrisiko ausfällt. Allerdings sind die Dummys nur für ganz bestimmte Lastfälle ausgelegt, zum Beispiel sitzend bei Frontalkollisionen. Der Biofidel-Dummy liefert seine Ergebnisse dagegen durch Beschädigungen wie gebrochene Knochen, gerissene Bänder oder aufgeplatzte Hautstellen.
Einem konventionellen Dummy könnte man also im Crashversuch nicht ohne Weiteres den Part des Fußgängers übertragen?
Schäuble: Das Problem dabei ist, dass konventionelle Dummys für gewöhnlich viel stärkere Fahrzeugbeschädigungen verursachen als ein echter Mensch. Des Weiteren erfolgt der Anprall normalerweise in stehender Position seitlich oder auf dem Fahrrad sitzend – die Messwerte der für den sitzenden frontalen Anprall entwickelten Dummys sind daher kaum verwendbar. Wenn der Gutachter also nach einem Crashversuch nur das Beschädigungsbild eines Fahrzeugs ansehen würde, dann würde er aufgrund der vorhandenen Beschädigung womöglich auf eine falsche Geschwindigkeit schließen.
Und beim Biofidel-Dummy verhält sich das anders?
Schäuble: In dieser Hinsicht ist der Biofidel-Dummy dem Menschen viel ähnlicher als ein konventioneller Dummy. Die ersten Modelle kamen vor rund zwölf Jahren auf den Markt – damals waren das noch vergleichsweise primitive Konstruktionen mit Knochen aus Holz. Sie sollten ausschließlich zu einem realistischen Beschädigungsbild am Fahrzeug führen. Irgendwann hat man festgestellt, dass die Beschädigungen eines Biofidel-Dummys auch Verletzungen eines Menschen repräsentieren könnten – ein Ansatz, den ich auch in meiner Diplomarbeit verfolgt habe. Mittlerweile untersucht man Beschädigungen des Biofidel-Dummys genau so, als ob es Verletzungen realer Verkehrsteilnehmer wären. Ein Biofidel-Dummy in der Standardausfertigung repräsentiert übrigens den Durchschnittsmann – der wiegt 78 Kilogramm und ist 1,75 Meter groß.
Was macht denn einen Biofidel-Dummy so menschenähnlich?
Schäuble: Der Dummy besitzt so genanntes Knochen-Ersatzmaterial. Seine Knochen weisen eine ähnliche Bruchfestigkeit auf wie menschliche Knochen. Das heißt, bei vergleichbaren Kräften brechen sie auch wie echte Knochen. Das Gewebe-Ersatzmaterial wiederum hat vergleichbare pseudoelastische Eigenschaften wie menschliches Gewebe. Pseudoelastisch bedeutet: Wenn man zum Beispiel bei einem Menschen mit dem Finger in den Bauch drückt, dann gibt das Fettgewebe nach – nimmt man die Hand weg, kehrt es in die ursprüngliche Form zurück. Das ist beim Biofidel-Dummy genau so – und außerdem eine maßgebliche Voraussetzung dafür, dass der Biofidel-Dummy beim Crashtest so mit dem Versuchsfahrzeug interagiert wie ein echter Mensch im Fall eines Unfalls. Konventionelle Crashtest-Dummys sind eher so genannte elastische Körper – wenn man diese anstößt, dann prallen sie einfach weg.
Sie haben als Unfallforscher noch eine sehr spezielle Qualifikation. Sie sind als AIS-Spezialist zertifiziert. Was hat es damit auf sich?
Schäuble: Das Kürzel AIS steht für „Abbreviated Injury Scale“. Das ist ein Messsystem, das einzelne Verletzungen von Menschen mittels eines exakt definierten Codes bezeichnet. Man kann sich das wie ein Wörterbuch vorstellen – mit derzeit rund 4000 Einträgen. Für jede Verletzung gibt es einen Code. Eine Fraktur des Schienbeins zum Beispiel kann den Code 854000.2 haben, wobei die letzte Ziffer nach dem Punkt die Schwere der Verletzung beschreibt. Nach AIS rangieren schwere Verletzungen ab Stufe 3 und darüber. In den USA ist der Umgang mit AIS weit verbreitet. Dort müssen auch Krankenhäuser – etwa Traumazentren – die Patienten nach dem AIS Code codieren. In Europa ist der AIS hingegen weniger stark verbreitet.
Was bedeutet diese Zertifizierung für Ihre Arbeit? Wozu ist sie überhaupt gut, wenn AIS in Europa nur wenig verbreitet ist?
Schäuble: Gerade für die Unfallforschung ist es wichtig, die Verletzung und ihre Schwere exakt zu codieren. Das erleichtert die Arbeit mit Datenbanken und die Kommunikation mit anderen Wissenschaftlern. Mir war wichtig, dass die DEKRA Unfallforschung auch nach außen hin mit der entsprechenden Expertise aufwarten kann – wenn wir im Bereich von AIS aktiv sind, dann ist das mit dem AIS-Zertifikat untermauert. In Deutschland arbeiten wir im Rahmen der GIDAS Datenbank (German In-Depth Accident Study) mit AIS. GIDAS ist ein Gemeinschaftsprojekt der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und der Forschungsvereinigung Automobiltechnik (FAT), in der auch DEKRA Mitglied ist. Unfallforschung darf allerdings nicht nur national betrachtet werden. Viele Fahrzeugmodelle kommen schließlich weltweit auf die Straßen. Zudem hilft der internationale Vergleich dabei, landes- oder regionenspezifische Stärken und Schwächen der Fahrzeuge zu erkennen. Das setzt die gleiche Sprache der Akteure voraus.
Wie arbeitet die DEKRA Unfallforschung mit GIDAS?
Schäuble: Mittels Analysen unserer DEKRA Unfalldatenbank und externer Statistiken erkennen wir Unfallszenarien, die besondere Risiken in Bezug auf Häufigkeit und Verletzungsschwere bergen. Darauf aufbauend nutzen wir die GIDAS Datenbank, um mehr über die einzelnen Verletzungen bei diesen Kollisionen zu erfahren. Ein aktuelles Beispiel liefern unsere Crashversuche zu Unfällen mit Rennradfahrern, die von hinten auf ein stehendes Auto auffahren. In der GIDAS-Datenbank haben wir rund 50 passende Fälle gefunden. Da die Datenbank mehrere Tausend Variablen besitzt, lässt sich das sehr gut recherchieren. Jetzt kann ich die ganzen Verletzungen, die es hier gab, detailliert auswerten. Nach dem Crashtest geht es unter anderem um die Frage, inwieweit es eine Korrelation zwischen den realen Verletzungen beim Menschen und den Beschädigungen des Biofidel-Dummys gibt – oder wo der Biofidel-Dummy noch Schwächen hat.
Kann die DEKRA Unfallforschung einen Beitrag zur Entwicklung des Biofidel-Dummys leisten?
Schäuble: DEKRA ist nicht offiziell an der Entwicklung des Dummys beteiligt. Aber wir kooperieren mit dem Hersteller insoweit, dass wir ihm einen Teil unserer Ergebnisse zur Verfügung stellen. Hier und dort haben wir auch schon Verbesserungsvorschläge gemacht. Wir hatten einmal einen Crashversuch, bei dem ein Fahrradfahrer von hinten von einem Auto erfasst wurde – der typische Überlandunfall eben. Als der Dummy dann auf die Oberfläche der Fahrbahn geprallt ist, hat die Reibung seine Haut perforiert, wodurch der Kopf komplett abgetrennt wurde. Das ist eine Verletzung, die man beim Menschen in dieser Form nicht erwarten würde. Der Hersteller hat dann zusätzlich eine Glasfasermatte in die Schädelhaut einlaminiert und mit der Wirbelsäule verbunden. Neue Versuche haben gezeigt, dass das eine Abtrennung wirksam verhindert. Für uns ist essenziell zu wissen, welche Aussagen auf Basis von Versuchen mit dem Dummy gemacht werden können – aber auch, wo die Grenzen liegen oder die Gefahr einer Fehlinterpretation besteht. Letztendlich geht es in der Unfallanalytik darum, dass Sachverständige dem Gericht darlegen, was beim Unfall passiert ist. Dies wird als Grundlage für die Urteilsfindung genutzt. Fehlinterpretationen oder nicht erkannte Fehler im Dummy können zu einem falschen Ergebnis eines Gutachtens führen und damit für Beschuldigte oder Opfer schwerwiegende Konsequenzen haben. Hier unterstützt die Unfallforschung die DEKRA Sachverständigen.
Muss ein Biofidel-Dummy nach einem Crash auch mal ins Krankenhaus?
Schäuble: Wir haben in der Vergangenheit schon Dummys in der Charité wie einen echten Menschen im CT scannen lassen. Danach führen wir die so genannte technische Obduktion durch. Das kann man sich wie in der Gerichtsmedizin vorstellen. Da wird der Dummy wirklich aufgeschnitten. Meine Aufgabe ist es dann, die Verletzungen des Dummys in die Verletzungen eines echten Menschen zu übertragen. Allerdings geht es bei den Untersuchungen letztlich nur um die Knochen und Bänder. Für eine Untersuchung von Organen sind die Dummys nicht ausgelegt. Das steht in unserem Bereich der Unfallforschung aber auch nicht auf der Tagesordnung. Hier geht es vor allem um Erkenntnisse für die Unfallrekonstruktion – und dafür reichen in der Regel Knochenbrüche und Bänderverletzungen, da man hieraus etwa Rückschlüsse auf die Anprallrichtung ziehen kann. Anschließend werden die beschädigten Teile repariert oder ersetzt. Der Vergleich mit dem Krankenhaus passt daher recht gut.
Wohin geht die Reise der Biomechanik in der DEKRA Unfallforschung?
Schäuble: Wir wollen den Bereich Biomechanik künftig weiter ausbauen. Bisher haben wir uns vor allem mit der Validierung von Dummys befasst, was auch den DEKRA Unfallanalytikern sehr geholfen hat. Allerdings ist der Arbeitsbereich mit Verletzungen in der DEKRA Unfallforschung noch sehr jung – im Moment prüfen wir, wie wir durch Kooperationen einen Mehrwert für Unfallforschung und -analytik generieren und diesen wichtigen Zweig mittelfristig in der DEKRA Welt etablieren können.