Die Prügelknaben der Nation

Mit 80 Sachen gegen die Wand: Dummys halten im Dienste der Sicherheit knallhart ihre „Knochen“ hin und sind dabei sehr feinfühlige Messinstrumente. Ein Jobporträt.

Dummys gibt es in allen Größen, vom Baby bis zum Übergewichtigen. Foto: Heinrich Holtgreve

Dummys gibt es in allen Größen, vom Baby bis zum Übergewichtigen. Foto: Heinrich Holtgreve

Ein Crashtest ist immer eine spannende Angelegenheit. Glas splittert, Metall knirscht und aus dem Lenkrad schießt der Airbag! Meistens kracht es fürchterlich und am Ende sind alle Beteiligten viel schlauer. Wer fragt da schon nach uns Dummys? Wir machen unseren Job und halten für die Unfallforschung unsere stählernen Knochen und gummiummantelten Metallschädel hin. Die ermittelten Daten landen im Rechner, wo sie dann bis ins letzte Detail ausgewertet werden. Das machen sie mit bis zu 150 Messsonden und Sensoren, die an meinen kritischen Teilen befestigt werden. Das sind Kopf, Hals, Brustkorb, Oberschenkel, Schienbein oder Fußgelenk. Da bin ich besonders empfindlich. Wie die Menschen auch.

Schwer vorzustellen, aber schon bei einem einzigen Crash kommen Zigtausende Messergebnisse zusammen, mit deren Hilfe Verletzungsrisiken erkannt und minimiert werden können. Etwa 200 Mal lassen sie es hier im DEKRA Crash Test Center jährlich krachen. Im Auftrag von Autoherstellern, Versicherungen oder zu Forschungszwecken.

„Manni“ ist einer von 25 Dummys

Wir sind eine Gruppe von insgesamt 25 Dummys der neuesten Generation: Kategorie Hybrid 3. Neun von uns wohnen hier in Neumünster. Sogar einen eigenen Raum haben wir, den sie gerne als Labor bezeichnen und streng vor den Blicken Neugieriger schützen. Oder liegt es daran, dass wir einfach so viel wert sind? Jedenfalls sieht es bei uns aus wie in einem riesigen Tresor. Ich heiße übrigens Manfred oder „Manni“, wie sie mich manchmal liebevoll nennen. Immer dann, wenn’s hart zur Sache geht.

Geboren wurde ich am 1. Juni 2005 in Plymouth/USA, wo der größte Dummy-Hersteller der Welt seine Zentrale hat. Meinen Geburtstag haben sie sogar in meinem Lebenslauf vermerkt. Und da steht auch, wofür ich mit meinen 78 Kilos nicht schon alles herhalten musste.

Bei Crashtests mit einem Dummy im Auto werden verschiedene Aufprallszenarien getestet. In diesem Fall der seitliche Zusammenprall mit einem Baum. Foto: Thomas KüppersAuch frontale Zusammenstöße müssen die Dummys überstehen. Foto: Thomas KüppersDas Skelett ist viel stabiler als das eines Menschen, aber mit Hunderten Sensoren bestückt. Foto: Heinrich HoltgreveCarsten Steppan legt dem Dummy die genormte Dienstkleidung an. Foto: Heinrich HoltgreveMithilfe eines kleinen Krans wird der 78 Kilo schwere "Manni" in das Auto gesetzt. Foto: Heinrich HoltgreveCarsten Steppan legt dem Dummy den Sicherheitsgurt an. Foto: Heinrich HoltgreveAuch als Beifahrer muss bei "Manni" der Gurt korrekt sitzen. Foto: Heinrich HoltgreveNach jedem vierten Crashtest geht es für "Manni" gut verpackt per Versand zur Kalibrierung in einen Fachbetrieb nach Bergisch Gladbach. Foto: Heinrich Holtgreve

Gebot der Vergleichbarkeit

Bei uns im Labor geht es meistens um acht Uhr morgens los. Die ganze Nacht hocke ich auf einem rollstuhlähnlichen Gestell, das dafür sorgt, dass ich mich nicht durchsitze. Es ist ähnlich wie bei den Menschen: Ständige Belastungen sind nicht gut für die Gelenke. Denn damit droht das Risiko, dass die beim Crash ermittelten Werte nicht stimmen oder unbrauchbar sind. Auch extreme Temperaturunterschiede mag ich nicht, weshalb unser Labor immer konstante 20 Grad hat. Und wehe dem, wenn ein Versuch in aller Frühe startet. Dann sitze ich nicht selten die ganze Nacht über, abgestützt von einem Mini-Kran, im Auto und eine spezielle Klimaanlage überwacht die Temperatur. Nicht gerade bequem für einen 1,75-Meter-Mann. Manchmal holen sie sogar Wolldecken, damit mir nicht kalt wird. Hier bei DEKRA sorgen sie wirklich gut für uns. Woran die alles denken — im Wäscheschrank liegt für jeden von uns sogar eine Ersatzgarnitur in Erikaviolett.

Leichte Baumwolle, also Feinripp, ist übrigens Pflicht. Das verlangt der Gesetzgeber so. Ich glaube, die wissen genau, was sie an uns haben. Zwar werden inzwischen immer mehr Vortests virtuell abgewickelt, aber Peter Rücker, Teamleiter Crash Tests in Stuttgart, sagt, dass sie zu uns keine Alternativen haben. Wer will diesen Job als Prügelknabe im Dienst der Sicherheit schon machen?

Auch Dummys halten nicht alles aus. Stürze aus dem Fenster oder die Treppe herunter vertragen sie nicht, genauso wie Wasser oder Feuer. Foto: Heinrich Holtgreve

Auch Dummys halten nicht alles aus. Stürze aus dem Fenster oder die Treppe herunter vertragen sie nicht, genauso wie Wasser oder Feuer. Foto: Heinrich Holtgreve

Ab 50 km/h wird es lebensgefährlich

Noch in den 1950er-Jahren wurden von der Industrie für Crashversuche sogar Leichen benutzt. Kaum vorstellbar. Mit uns geht das einfacher. Wir sind genormt und liefern deshalb reproduzierbare Ergebnisse. Zudem braucht man für verschiedene Unfallszenarien auch verschiedene Messpuppen. Wir fahren also nicht nur Auto und Motorrad, sondern sitzen auch auf dem Fahrrad oder im Kindersitz und sind als Fußgänger unterwegs. Männer, Frauen und Kinder. Alle mit angepasstem „Skelett“. Und weil die Menschen immer dicker werden, habe ich sogar Verwandte, die ebenfalls übergewichtig sind.

HIC, Head Injury Criterion, ist eine Kennzahl für die Kopfbelastung. Er ist wegen seiner guten Vergleichbarkeit weltweit in Crash-Standards vertreten. Foto: Heinrich Holtgreve

Head Injury Criterion (HIC) ist eine Kennzahl für die Kopfbelastung. Er ist wegen seiner guten Vergleichbarkeit weltweit in Crash-Standards vertreten. Foto: Heinrich Holtgreve

Obwohl wir ständig hart rangenommen werden, haben wir dennoch kein ewiges Leben. Erst neulich wollte mich ein Kunde für einen Sprung aus der 2. Etage haben. Ein anderer hatte vor, mich die Kellertreppe herunterzustürzen. So etwas mögen wir überhaupt nicht. Auch kein Wasser oder Feuer! Dabei halten wir viel mehr aus als der menschliche Körper. Ich sag nur HIC. Diese Abkürzung steht für Head Injury Criterion und ist eine Kennzahl für die Kopfbelastung. Es ist ein Integralwert der Kopfbeschleunigung innerhalb eines beobachteten Zeitintervalls. Der Grenzwert liegt bei 1.000. Dann wird es lebensgefährlich für Menschen. Das kann schon bei einem Frontalaufprall aus 50 km/h passieren. Autohersteller versuchen konstruktiv zu erreichen, dass der HIC hierbei höchstens ein Drittel des Grenzwertes erreicht.

Woher ich das weiß? Unfallforschung mit Hilfe von Dummys! Bei einem nicht angelegten Gurt oder einem harten Anprall gegen das Lenkrad eines älteren Autos liegt der HIC schnell zwischen 2.000 und 3.000.

Auf Tour zur Kur

Nach jedem vierten Crashtest bekomme ich übrigens eine Zwangspause verordnet. Dann geht’s zum Kalibrieren in einen Fachbetrieb nach Bergisch Gladbach. Dazu schraubt mir unser Laborleiter Carsten Steppan, der auch Fachverantwortlicher für die Messtechnik in Neumünster ist, die Beine ab und steckt mich in eine große Holzkiste. Meist geht es dann als Expressgut auf die große Reise. Für mich ist das wie Urlaub. Dieser regelmäßige Check-up wird durchgeführt, um sicherzustellen, dass meine Messeinrichtungen noch in Ordnung sind.

Sämtliche Körperteile prüft das Labor extrem penibel. Um vergleichbare Ergebnisse bei den Versuchen zu bekommen, müssen alle Parameter stets gleich sein. Manchmal fahre ich aber auch mit dem Auto als Beifahrer. Wenn mich zum Beispiel eine andere Test-Einrichtung ganz dringend braucht … Neulich waren wir auf dem Weg nach Berlin. Da hatte ich richtig Lust, einmal selbst auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen, aber das geht ja nun wirklich nicht — noch nicht.

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