Automatisiertes Fahren: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Author: Joachim Geiger

28. Juli 2021 Innovation

Hinter den Kulissen arbeiten Autohersteller und Zulieferer mit Hochdruck an Algorithmen für voll automatisierte Fahrfunktionen. Allerdings können nur aufwändige Testprogramme klären, wie sich die Fahrzeuge damit verhalten. Ganz nah dran an den neuesten Entwicklungen sind die Experten im DEKRA Technology Center am Lausitzring. Wir haben uns nach dem Stand der Technik erkundigt.

Wunsch und Wirklichkeit liegen im Straßenverkehrsrecht bisweilen auseinander. Darf der Fahrer bei der Fahrt auf der Autobahn eine Mail schreiben? Zeitung lesen? Die Kinder auf dem Rücksitz beruhigen? Der Gesetzgeber lässt das zu – wenn das Fahrzeug für das automatisierte Fahren nach Level 3 zugelassen ist und die Geschwindigkeit nicht mehr als 60 Stundenkilometer beträgt. Wie viele Fahrzeuge hierzulande tatsächlich unter diesen Bedingungen auf Achse sind? Die Wirklichkeit ist ernüchternd, wie der Bericht der Bundesregierung über die Evaluation der Regelungen zum automatisierten Fahren vom 14. April 2021 belegt. So gibt es in Deutschland weder auf einem höheren Level zugelassene Fahrzeuge noch liegen den Behörden Anträge auf Erteilung von Typgenehmigungen vor.
Dabei geht der Bund mit dem brandneuen „Gesetz zum autonomen Fahren“ bereits einen Schritt weiter. Künftig könnten Fahrzeuge in einem zuvor genehmigten Betriebsbereich voll automatisiert fahren – etwa im Linienverkehr mit Personenshuttles oder in der Güterbeförderung auf der ersten oder letzten Meile (Level 4). Ein klassischer Fahrer muss dann nicht mehr an Bord sein. Stattdessen übernimmt eine Technische Aufsicht das Kommando, wenn der Bordcomputer nicht weiterweiß. „Das Gesetz richtet sich in erster Linie an den ÖPNV und die Logistik. Für den Individualverkehr sind diese Regelungen nicht praktikabel“, sagt André Skupin, Leiter der Abteilung Grundlagen und Prozesse bei DEKRA Automobil.
Nachholbedarf bei Genehmigungen von Fahrzeugtests im öffentlichen Raum
Mit der einheitlichen Zulassung von automatisierten Fahrzeugen der Stufe 4 hat Deutschland weltweit die Nase vorn. Allerdings attestiert das Beratungsunternehmen KPMG den Deutschen im „2020 Autonomous Vehicles Readiness Index“ handfesten Nachholbedarf im Hinblick auf die Genehmigungspraxis für Testfahrten mit voll automatisierten Fahrzeugen im öffentlichen Raum. Hier sind Länder wie China, Südkorea, Singapur und die USA viel besser aufgestellt.
Läuft also Deutschland der Entwicklung hinterher? Eine im Juni 2020 vorgelegte Studie der Frankfurter Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers (PwC) zu voll automatisierten Bussen im ÖPNV listet immerhin rund 40 Projekte im Bundesgebiet auf, bei denen Personenshuttles im Linienverkehr, an Flughäfen und in Industriegebieten voll automatisiert und mit Sicherheitsfahrern unterwegs sind. Die meisten sind allerdings auf eher kurzen Strecken von ein, zwei Kilometer Länge und mit Geschwindigkeiten bis zu 20 Stundenkilometern im Einsatz.
People Mover im Projekt „Absolut“- ein Schritt in Richtung voll automatisiertes Fahren?
Sind also People Mover eine Referenz fürs voll automatisierte Fahren? „Das wäre etwas weit hergeholt“, weiß Steffen Hladik, Leiter der Abteilung Gesamtfahrzeug im DEKRA Technology Center (DTC) in Klettwitz. Einen Schritt in diese Richtung könnte aber das bis Ende des Jahres laufende Projekt „Absolut“ der Technischen Universität Dresden und der Leipziger Verkehrsbetriebe sein. Die Protagonisten sind zwei automatisierte Shuttles des französischen Herstellers Easymile mit Platz für einen Sicherheitsfahrer und 16 Fahrgäste. Die kleinen Busse sollen auf einer exakt festgelegten sieben Kilometer langen Strecke zwischen dem BMW-Werk und der Messe Leipzig mit Geschwindigkeiten bis zu 70 Stundenkilometern fahren können. Sie erkennen Hindernisse in der Spur und können selbstständig feststellen, ob die Spurbreite noch ausreicht, um ohne einen Wechsel auf die Gegenfahrbahn daran vorbeizukommen. DEKRA betreut das Projekt „Absolut“ seit eineinhalb Jahren und hat gemeinsam mit den Projektpartnern eine Risikoanalyse für die Strecke und eine sicherheitstechnische Bewertung der Fahrzeuge erstellt.
Topmoderne Testmöglichkeiten fürs automatisierte Fahren auf dem Lausitzring
Aber auch im Grenzbereich zwischen Assistenzsystemen und hochautomatisierten Systemen ist die Expertenorganisation aktiv. Der DEKRA Lausitzring ist ein perfektes Testgelände für Autohersteller und Zulieferer, um Fahrzeuge und Systeme mit automatisierten und vernetzten Fahrfunktionen unter abgesicherten Bedingungen auf Herz und Nieren zu testen. „Unsere Dienstleistungen gehen von der Simulation über Data Collection, reproduzierbare Fahrversuche auf dem Prüfgelände bis hin zu Absicherungsdauerläufen im öffentlichen Straßenverkehr“, erklärt Uwe Burckhardt, Leiter Test und Event DEKRA Lausitzring. Dabei sammelt DEKRA in tausenden genau definierten Versuchsanordnungen hochwertige Daten, mit denen die Entwickler ihre Algorithmen verbessern. Ein technologisches Highlight auf dem Lausitzring ist der Ansatz zum Szenarien basierten Testen, bei dem es um das Fahrverhalten eines automatisierten Fahrzeugs geht.
Im Leitstand orchestrieren die Experten Schwarmtests mit mehreren Fahrzeugen
Bei diesen Schwarmtests orchestrieren die Experten im Leitstand über das DEKRA eigene 5G Netz den Einsatz von mehreren Versuchsfahrzeugen – darunter auch Lkw und Transporter. Das Steuer übernehmen Fahrroboter, die über den gesamten Geschwindigkeitsbereich hinweg mit höchster Genauigkeit in Quer- und Längsrichtung lenken und die Fahrzeuge im Schwarm zentimetergenau auf die gewünschte Position bewegen. Der entscheidende Vorteil dabei: Jedes Szenario lässt sich unter identischen Umständen wiederholen, was eine zuverlässige Absicherung der Resultate ermöglicht. Das Leistungsvermögen der Testfahrzeuge ist bereits sehr hoch, stellt Uwe Burckhardt fest. Bis zum Level 4 im Individualverkehr dürfte es seiner Meinung nach aber noch eine Weile dauern. DEKRA jedenfalls bleibt an den weiteren Entwicklungen dran – als begleitender Testdienstleister für die automobile Klientel.
Interview: Drei Fragen an Joachim Klink, Head of Autonomous Driving & Smart Mobility bei T-Systems International
Herr Klink, T-Systems unterstützt DEKRA seit Anfang 2020 bei der Entwicklung eines Konzepts für die Untersuchung von Fahrzeugen in künftigen Generationen. Warum müssen wir das bisherige Modell neu denken?
Klink: Die Software im Fahrzeug rückt bei der Bewertung der Fahrsicherheit zunehmend in den Vordergrund. Dazu kommt, dass sich die Fahrzeugsoftware immer häufiger verändert – auch dann, wenn sich die Fahrzeuge längst im Feld befinden. Tesla hat zum Beispiel im Jahr 2020 über 150 Updates für die Fahrzeugsoftware ausgerollt, nach unserer Analyse rund 30 Prozent davon mit potenziellem Einfluss auf die Fahrsicherheit.
Wie sehen Sie die Konzeption und die Aufgaben eines Trust Centers?
Klink: Es soll unter anderem Prüforganisationen den diskriminierungsfreien Zugang zu fahrsicherheits- und umweltrelevanten Daten ermöglichen. Natürlich wäre es nicht praktikabel, nach jedem Softwareupdate eine neue Typzulassungsprüfung durchzuführen. Andererseits beinhaltet jede Softwareänderung Risiken, weil Software nie fehlerfrei ist. Es wäre der Sicherheit sehr dienlich, wenn man einem unabhängigen Dritten wie DEKRA direkten Zugang zu diesem Code für stichprobenartige oder anlassbezogene Überprüfungen gewährt.
Welche Anforderungen muss das geplante Trust Center im Hinblick auf die Sicherheit der Daten erfüllen?
Klink: Wir müssen sicherstellen, dass nur berechtigte Organisationen darauf Zugriff erhalten. Eine weitere Baustelle ist die Definition der Rollen und Rechte – also wer auf welche Daten wann und wie Zugang erhält. Eine eher theoretische Gefahr ist die Manipulation der Fahrzeugdaten. Für das Trust Center spielt das aber keine Rolle, da wir einen „read-only“ Ansatz verfolgen.