Hochentwickelte Assistenzsysteme für mehr Sicherheit

Author: Joachim Geiger

15. Feb. 2023 Digitalisierung / Sicherheit im Verkehr

Fahrerassistenzsysteme können Unfälle vermeiden oder dazu beitragen, die Folgen zu mindern. Allerdings ist die Ausstattungsquote der Fahrzeuge mit elektronischen Helfern bislang noch gering. An diesem Punkt setzt jetzt eine EU-Verordnung an – mit der Vorgabe eines Mindeststandards für Fahrerassistenzsysteme in neuen Autos.

Wenn der europäische Gesetzgeber per Verordnung für mehr Sicherheit im Straßenverkehr sorgen möchte, kann der Titel des Werks schon mal sperriger ausfallen. Der aktuelle Aufschlag in dieser Richtung nennt sich „Verordnung (EU) 2019/2144 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge im Hinblick auf ihre allgemeine Sicherheit und den Schutz der Fahrzeuginsassen und von ungeschützten Verkehrsteilnehmern“. Hinter der juristischen Formelsprache der Verordnung steht eine klare Zielsetzung, die das Zeug zu einem Meilenstein in der Verkehrssicherheit haben könnte. Der Verordnungsgeber setzt konsequent auf technischen Fortschritt, um durch neue Sicherheitsmaßnahmen die Zahl der Schwerverletzten und Getöteten im Straßenverkehr noch weiter zu senken. Darüber hinaus schreibt er der Autoindustrie eine anspruchsvolle Sicherheitsausstattung ins Lastenheft für die Fahrzeugausstattung. Im Fokus stehen unter anderem moderne und hochentwickelte Fahrerassistenzsysteme für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge – seit dem 6. Juli 2022 müssen neue Kraftfahrzeugtypen in der EU damit ausgerüstet sein. Ein weiterer Termin, den sich die meisten Hersteller mit Rotstift im Kalender markiert haben dürften, ist der 7. Juli 2024: Ab diesem Zeitpunkt gelten die Regeln generell für alle Erstzulassungen.
Die EU-Verordnung definiert jetzt einen Mindeststandard für Assistenzsysteme
„Fahrerassistenzsysteme sind ein Schlüssel für mehr Sicherheit auf den Straßen, weil sie dazu beitragen, Unfälle entweder ganz zu vermeiden oder zumindest die Folgen zu mindern“, erklärt der DEKRA Verkehrssicherheitsexperte Walter Niewöhner. Auch bei Autofahrern haben sie eine hohe Akzeptanz, wie zuletzt die Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens forsa für den DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2021 gezeigt hat. In der Praxis indes ist die Ausstattungsquote privat genutzter Pkw mit elektronischen Sicherheitssystemen noch ausbaufähig. Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) hat in einer 2019 publizierten Studie zur Marktdurchdringung von Fahrzeugsicherheitssystemen festgestellt, dass Sport Utility Vehicles (SUV) ebenso wie Fahrzeuge der oberen Mittel- und Oberklasse in der Regel mit guter Sicherheitsausstattung unterwegs sind. Insgesamt liege die Verbreitung der automatischen Brems- und Warnsysteme aber auf einem niedrigen Niveau, wozu auch der geringe Ausstattungsgrad neuer Fahrzeuge in den unteren Klassen beitrage. Mit der EU-Verordnung kommt jetzt jede Menge Bewegung ins Spiel. Sie benennt eine Reihe von Sicherheitssystemen, die künftig über alle Marktsegmente hinweg einen Mindeststandard bei der Ausstattung mit elektronischen Hilfssystemen definieren. Die Mehrzahl dieser geforderten Sicherheitssysteme sind Assistenzsysteme.
Die Assistenzsysteme haben gewissermaßen die Lizenz zum Eingriff
Wohin also geht die Reise für die automobilen Assistenten? Und was kommt auf Hersteller und Autofahrer zu? Aufschluss liefert ein Blick auf Artikel 6 der EU-Verordnung. Dort findet sich eine Aufstellung von Systemen, die fast alle mit einer gewissen Intelligenz aufwarten. Der Müdigkeitswarner etwa warnt den Fahrer, sobald er Indizien für Müdigkeit und nachlassende Aufmerksamkeit erkennt. Der Rückfahrassistent warnt vor einem Zusammenstoß mit hinter dem Fahrzeug befindlichen Personen und Objekten, wenn der Fahrer den Rückwärtsgang einlegt. Dazu kommen Systeme, die gewissermaßen über die Lizenz zum Eingriff in das Fahrgeschehen verfügen – auch wenn der Gesetzgeber verlangt, dass der Fahrer diese jederzeit übersteuern kann. Die elektronischen Helfer müssen sich zudem selbstständig abschalten, wenn widrige Witterungsverhältnisse oder Mängel in der Straßeninfrastruktur die sichere Funktion beeinträchtigen. Der intelligente Geschwindigkeitsassistent hat die Aufgabe, den Fahrer durch Warnsignale darauf aufmerksam zu machen, wenn er ein Tempolimit überschreitet und die Geschwindigkeit bei Bedarf zu reduzieren. Der Notfall-Spurhalteassistent tritt in Aktion, wenn die Gefahr besteht, dass das Fahrzeug unbeabsichtigt die Fahrspur verlässt. Das System orientiert sich an der Fahrbahnmarkierung und greift bei Bedarf mit einem entsprechenden Lenkimpuls in die Lenkung ein.
Der Notbremsassistent muss bald zuverlässig Fußgänger und Radfahrer erkennen
Der Notbremsassistent wiederum muss dazu in der Lage sein, stehende und bewegte Fahrzeuge vor dem Kraftfahrzeug zu erkennen, den Fahrer zu warnen und ggf. selbstständig zu bremsen. Ab dem 7. Juli 2024 muss der Notbremsassistent in allen neuen Fahrzeugtypen auch Fußgänger und Radfahrer erkennen. Zwei Jahre später gilt diese Regel dann auch für Erstzulassungen. Komplettiert werden die Notfall-Funktionen der EU-Verordnung durch den Einbau eines Notbremslichts, das bei einer Geschwindigkeit von mehr als 50 Stundenkilometern dem rückwärtigen Verkehr anzeigt, dass das Fahrzeug mit einer starken Verzögerung gebremst wird oder das Antiblockiersystem aktiv ist. Zur Pflichtausstattung nach Artikel 6 gehören übrigens auch zwei Systeme, die nicht als Fahrerassistenz einzustufen sind. Die Hersteller müssen eine standardisierte Schnittstelle vorhalten, die das Nachrüsten einer alkoholempfindlichen Wegfahrsperre ermöglicht. Der ereignisbezogene Datenspeicher dagegen ist eher der Unfallaufklärung und der Unfallforschung als dem Fahrer zugeordnet – das System soll kurz vor, während und nach einem Unfall anonymisierte Fahrdaten wie Geschwindigkeit, Bremsung und Position erfassen und dokumentieren.
Die neuen Systeme weisen in die Zukunft des automatisierten Fahrens
Unterm Strich schreibt die EU-Verordnung bei den Fahrerassistenzsystemen einen vergleichsweise hohen Standard fest. Wie steht es nun mit der Möglichkeit, dass ein Auto mit hochentwickelten Assistenten mehr sein könnte als die Summe seiner Teile – etwa ein teilautomatisiertes Fahrzeug nach SAE-Level 3? Tatsächlich beschreibt das Regelwerk lediglich einzelne Assistenzsysteme und hält sich ansonsten mit Aussagen zu den verschiedenen Stufen des automatisierten Fahrens zurück. Die Verordnung weist aber auch eindeutig in die Zukunft: „Ein großer Teil dieser Systeme sind notwendige Entwicklungsschritte, um das teil- und hochautomatisierte Fahren in die Wege leiten zu können“, weiß DEKRA Experte Walter Niewöhner. Bis dahin bleiben diese Assistenzsysteme jedoch reine Fahrhilfen – die auch ihre speziellen Systemgrenzen haben. „Wenn ein Fahrer auf eisglatter Straße mit dem an sich erlaubten Tempo unterwegs ist, kann auch der intelligente Geschwindigkeitsassistent die Möglichkeit eines Unfalls nicht verhindern“, weiß Walter Niewöhner. Und wenn ein Fahrer mit zu hohem Tempo geblitzt wird, weil der Geschwindigkeitsassistent das Verkehrszeichen nicht richtig erkannt hat? Ein Fahrassistent kann für Defekte oder falsches Verhalten nicht haftbar gemacht werden – was Gerichte zunehmend in ihren Urteilen bestätigen. Am Ende hat stets der Fahrer das Kommando am Steuer und die Verantwortung, auch wenn hochentwickelte Fahrassistenzsysteme an Bord sind.