Laufen lernen auf Level 3

Author: Joachim Geiger

17. Aug. 2022 Digitalisierung / Sicherheit im Verkehr

Das SAE-Level 3 geistert schon lange durch die Vorstellungen vieler Autofahrer. Dabei hat mit Mercedes-Benz gerade mal ein Autohersteller regulär die ersten hochautomatisierten Fahrzeuge im Programm. Aber warum tut sich die Branche mit diesem Level so schwer? Wir haben den DEKRA Experten Walter Niewöhner gefragt, wohin die Reise geht.

Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hat im Dezember 2021 dem Autohersteller Mercedes-Benz die Zulassung für ein Fahrzeugsystem erteilt, das dem Fahrer hochautomatisiertes Fahren ermöglicht. Mit diesem System, das die technischen Vorgaben der UN-Regelung Nr. 157 erfüllt, haben die Schwaben als weltweit erster Hersteller ein zugelassenes System auf dem SAE Level 3 im Programm. Rückt damit Level 4 schon in Schlagweite?
Walter Niewöhner: Ein Auto mit Level 4 fährt in jeder denkbaren Verkehrssituation im Grunde komplett selbst. Davon sind wir noch sehr weit entfernt. Level 3 bedeutet, dass ein System dauerhaft die Längs- und Querführung übernimmt. Dabei muss es auch seine Funktionsgrenzen erkennen: Wenn die erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind, muss es den Fahrer auffordern, die Fahraufgabe wieder selbst zu übernehmen. Der Drive Pilot, den Mercedes-Benz jetzt anbietet, ist allerdings kein System, das in jeder Fahrsituation über Level 3 verfügt. Die Rahmenbedingungen besagen unter anderem: Fahren nur auf der Autobahn oder autobahnähnlichen Straßen, Fahren in einer Fahrspur, und zwar bis maximal 60 km/h, bei Tageslicht und Temperaturen über 4°C.
Wann fährt man denn auf der Autobahn nur Tempo 60? Doch nur im Stau oder in Baustellen. Es handelt sich bei dem neuen System also nur um einen Staupiloten?
Niewöhner: Das System ist funktionell auf einen bestimmten Aspekt der Fahrzeugnutzung bezogen, nämlich auf die Fahrt bei zähfließendem Verkehr oder im Stau. Liegt eine solche Situation vor, aktivieren Sie das System. Das Fahrzeug fährt dann auf seiner Spur weiter, bis der Fahrer wieder die Fahraufgabe übernimmt. In dieser Situation wird das System den Fahrer entlasten – er könnte zwischendurch etwa Zeitung lesen. Seine einzige Verpflichtung besteht darin, dass er innerhalb von zehn Sekunden das Fahrzeug wieder übernehmen können muss.
Gut ausgestattete Autos haben Assistenzsysteme, die dem Fahrer Aufgaben wie das Halten der Spur oder des Abstands abnehmen können. Wo ist hier der Fortschritt?
Niewöhner: Es wäre ein Trugschluss, einem Fahrzeug mit Level 2 genau die gleichen Fähigkeiten zu unterstellen, die das höhere Level 3 zwingend benötigt. Das Level-2-System kann zwar ein Fahrzeug in der Spur halten. Aber es macht dann auch nur genau das – das Fahrzeug in der Spur halten und darauf achten, ob ein anderer Verkehrsteilnehmer voraus ebenfalls in der Spur ist. Im Englischen heißt dieses System „Advanced Driver Assistant System“ (ADAS) – das Level-3-System dagegen nennt sich „Automated Driving System“ (ADS). Da fehlt nur ein „A“, aber die Bedeutung ist eine komplett andere. Ab Level 3 muss ein System viel mehr können. Der große und bedeutende Schritt ist der, dass die Technik bei der Durchführung der Fahraufgabe die Verantwortung übernimmt. Der Fahrer ist an dieser Stelle wirklich komplett raus – er fällt als verantwortliche Person weg.
Der Drive Pilot darf zum Beispiel nur bei Tag, auf trockener Strecke oder leichter Nässe aktiviert werden. Es braucht erkennbare Fahrbahnmarkierungen und ein vorausfahrendes Fahrzeug. Welchen Nutzen bringt das System bei so vielen handfesten Einschränkungen?
Niewöhner: Ich würde in diesem Fall nicht von Einschränkungen reden. Es geht hier um die so genannte „Operational Design Domain“ (ODD). Der Hersteller definiert damit einen Einsatzbereich und sagt, dass das System innerhalb dieses Bereichs funktioniert. Man sollte das System deswegen auf keinen Fall schlecht reden. Viele Menschen haben eine viel zu hohe Erwartungshaltung, wenn es heißt, wir können jetzt automatisiert fahren. Der Drive Pilot stellt praktisch die Kinderschuhe des automatisierten Fahrens dar. Das sind jetzt die ersten Schritte, später kommen mit zunehmender Erfahrung weitere Fähigkeiten dazu. Diese Zeit muss man der Technik zubilligen. Diese Erfahrungen lassen sich eben nicht von heute auf morgen in die technischen Systeme implantieren.
Das Weltforum für die Harmonisierung von Fahrzeugvorschriften (WP 29), das unter dem Dach der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE) für die Harmonisierung und Weiterentwicklung der technischen Vorschriften im Fahrzeugbau zuständig ist, macht jetzt den nächsten Schritt in Sachen Level 3. Es hat am 22. Juni grünes Licht für eine Neufassung der UN-Regelung Nr. 157 gegeben, die ab Januar 2023 in Kraft treten soll. Was kommt damit auf die Automobilbranche zu?
Niewöhner: Die Neufassung bohrt gewissermaßen die alte Regelung auf. Künftig soll auf der Autobahn die Geschwindigkeit von bisher 60 auf 130 Stundenkilometer erhöht werden. Auch ein selbstständiger Spurwechsel soll dann möglich sein. Das wird ohne jede Frage ein Meilenstein in der Entwicklung des hochautomatisierten Fahrens auf Level 3. Für die Autohersteller und ihre Kunden wird es damit jetzt richtig interessant. Allein die Sache mit dem Spurwechsel: Das bedeutet, dass ein Fahrzeug jetzt auch die benachbarte Spur, auf die gewechselt werden soll, ganz genau im Blick haben muss. Was passiert vor dem eigenen Bereich, was kommt von hinten? Das alles muss in Relation zueinander gesetzt werden. Hier haben sich die verschiedenen Arbeitsgruppen unterhalb der WP 29 mit dem entsprechenden Regelwerk mächtig ins Zeug gelegt.
Apropos Arbeitsgruppen. Sie sind nicht nur Experte für Fahrerassistenzsysteme, sondern auch Beauftragter für Internationale Gremien. Ist DEKRA eigentlich an Bord, wenn auf UN-Ebene die Regeln fürs automatisierte Fahren festgelegt werden?
Niewöhner: Nur auf indirekte Art und Weise. DEKRA ist Mitglied im Comité International de l’Inspection Technique Automobile (CITA), einem internationalen Zusammenschluss von Organisationen für die Fahrzeugprüfung. Als Vertreter der CITA bin ich in mehreren Arbeitsgruppen der WP 29 beteiligt – unter anderem in der Special Interest Group on Regulation 157, die sich ausschließlich damit befasst, wie das Upgrade auf Tempo 130 mit Spurwechsel aussehen soll, das später auch auf andere Fahrzeugklassen übertragen werden soll.
Gewähren Sie uns einen Blick hinter die Kulissen. Wie geht dort die Arbeit vor sich?
Niewöhner: Die Herangehensweise ist beim automatisierten Fahren durchaus speziell. Bei einer konventionellen Technologie ist es häufig so, dass erst ein Produkt auf den Markt kommt. Erst dann klären die Gremien, was man mit Blick auf die eingeführte Technik eigentlich regeln und vorschreiben sollte. Beim hochautomatisierten Fahren ist das ganz anders. Hier werden Regeln für Technologien aufgestellt, die in der Praxis noch gar nicht mit den entsprechenden Erfahrungen hinterlegt sind.
Was müsste demnach ein hochentwickeltes ADS leisten?
Niewöhner: Es muss sicher mit dem Fahrer kommunizieren, die Verkehrsregeln einhalten und schwierige Verkehrssituationen meistern. Das klingt erst einmal einfach. Aber für die Software-Entwickler sind das riesige Herausforderungen. Sie müssen im Prinzip die Texte der Straßenverkehrsordnungen in den verschiedenen Ländern in Regeln für ein digitales System umsetzen. Wie aber erklären Sie einem System, dass es einem Fußgänger am Zebrastreifen den Vorrang gewähren soll? Es gibt derzeit keine absolut zuverlässige Möglichkeit, das Verhalten eines Fußgängers anhand von Bewegungsgeschwindigkeit und Gehrichtung vorauszusagen. Der Fußgänger ist der einzige Verkehrsteilnehmer, der innerhalb einer Sekunde anhalten kann, um sich in der nächsten Sekunde in jede andere beliebige Richtung weiter zu bewegen. Das macht es für die Entwickler sehr schwierig.
Und was heißt das konkret für die Neufassung der UN-Regelung Nr. 157?
Niewöhner: Zunächst einmal gilt das neue Regelwerk für automatisierte Fahrsysteme nur für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge. Diese Systeme dürfen dann nur auf Straßen aktiviert werden, auf denen keine Fußgänger und Radfahrer zugelassen sind. Die Straßen selbst müssen mit einer physischen Barriere vom Gegenverkehr getrennt sein. Der Fahrer muss in der Lage sein, das System zu übersteuern. Das System wiederum muss den Fahrer jederzeit auffordern können, die Kontrolle über das Fahrzeug wieder zu übernehmen. Tatsächlich ist das Regelwerk unglaublich komplex und definiert sehr hohe Anforderungen an die Sicherheit. Die Automobilhersteller müssen zum Beispiel eine Black Box in ihre Fahrzeuge einbauen, die jede Aktivierung des automatisierten Fahrsystems und jeden automatisch durchgeführten Spurwechsel dokumentiert. Neben den technischen Anforderungen spielen auch Maßnahmen im Bereich Test und Typprüfung sowie Monitoring und Evaluation eine Rolle. Die neuen Funktionen müssen auch den Anforderungen an Cybersicherheit und Softwareaktualisierung entsprechen, die in den einschlägigen UN-Vorschriften festgelegt sind.
Um noch einmal das Bild mit den Kinderschuhen zu bemühen – wie verhalten sich aus Ihrer Sicht die alten und neuen Regeln der UN Regelung Nr. 157 zueinander?
Niewöhner: Mit der alten Fassung lernt das Kind zu gehen, mit der neuen kann es schon richtig laufen.